| # taz.de -- Hans-Werner Sinn über Arbeit: „Löhne nicht hochzwingen“ | |
| > Der Ökonom lehnt zwar Mindestlöhne ab, setzt sich aber für eine bessere | |
| > Bezahlung ein. Hans-Werner Sinn über Prognosen, Wettbewerb und seine | |
| > Pensionierung. | |
| Bild: Hans-Werner Sinn: Spaß an der Apokalypse? Nein, aber am Disput | |
| taz: Herr Sinn, da Sie seit Kurzem in Pension sind, können Sie es ja jetzt | |
| verraten: Es gibt Tausende von Ökonomen in Deutschland, aber man hörte vor | |
| allem Sie. Was machen die anderen falsch? | |
| Hans-Werner Sinn: Gar nichts. Viele Ökonomen bleiben im Elfenbeinturm und | |
| betreiben Grundlagenforschung. Aber ich habe ein Leibniz-Institut geleitet. | |
| Leibniz-Institute haben die Aufgabe, Themen zu bearbeiten, die politisch | |
| relevant sind und es in die Zeitung schaffen. | |
| Bei Ihren Auftritten im Fernsehen und auf Pressekonferenzen fällt auf, dass | |
| Sie zum Alarmismus neigen. Stets droht der Untergang Deutschlands. Verkauft | |
| sich die angebliche Katastrophe medial besonders gut? | |
| Ökonomen warnen vor Gefahren, die andere noch nicht erkennen. Von einem | |
| Arzt erwarten Sie auch, dass er nach einen Bluttest auf die Gefahren | |
| hinweist. In der Medizin und in der Volkswirtschaftslehre gehört der Alarm | |
| zum Wesen des Fachs. | |
| Trotzdem fiel auf: Je schlimmer die Prognose, desto heiterer wurde ihr | |
| Gesicht. Haben Sie Spaß an der Apokalypse? | |
| Nein, Spaß am Disput. Darf ein Arzt niemals lächeln? | |
| Oft haben Sie aber auch Krankheiten diagnostiziert, obwohl dem Patienten | |
| gar nichts fehlte. Beispiel Mindestlohn: Sie haben prognostiziert, dass | |
| dadurch 900.000 Stellen wegfallen würden. Stattdessen sind in Deutschland | |
| so viele Menschen erwerbstätig wie noch nie. Wie kam es zu Ihrer | |
| Fehleinschätzung? | |
| Das war keine Fehleinschätzung, sondern die sinnvolle Berechnung eines | |
| Szenariums der ifo-Niederlassung in Dresden unter Leitung von Professor | |
| Thum. | |
| Aber Sie haben diese Studie immerzu zitiert. | |
| Ich werde immerzu damit zitiert, weil es ein schönes Argument zur | |
| Entlarvung des Neoliberalen zu sein scheint. Aber erstens handelte es sich | |
| um eine Langfristrechnung und zweitens, wie stets bei solchen Studien, um | |
| eine sogenannte differenzielle Berechnung. Mit dem Mindestlohn wird es | |
| 900.000 Stellen weniger geben, als es angesichts der guten Konjunktur ohne | |
| den Mindestlohn gegeben hätte. Unsere beiden ifo-Prognosen aus dem Sommer | |
| und Winter 2014 sahen für 2015 keinen Zuwachs, sondern eine Abnahme der | |
| Arbeitslosigkeit vor. Warum zitieren Sie mich nicht damit? | |
| Wenn die Konjunktur bestens läuft trotz des Mindestlohns – dann scheint | |
| dieser ja keine Arbeitsplätze zu kosten. | |
| Sie wissen ja nicht, wie es sonst gewesen wäre. Im Übrigen zeigt die | |
| Vergangenheit, dass die Senkung von Mindestlöhnen Beschäftigung schafft. | |
| Wie? | |
| Zur Jahrtausendwende galt die deutsche Wirtschaft als kranker Mann Europas. | |
| Damals plädierte ich für eine aktivierende Sozialpolitik. Der Staat sollte | |
| weniger Geld fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen zahlen. Die Löhne für | |
| einfache Arbeit sollten fallen, damit mehr Jobs entstehen, aber die | |
| Einkommen sollten durch Lohnzuschüsse aufrechterhalten werden. Diese Ideen | |
| wurden durch die Hartz-Reformen aufgegriffen und haben Wunder bewirkt. | |
| Der Effekt war ein Niedriglohnsektor. Wo ist das Wunder? | |
| Der Trend der wachsenden Arbeitslosigkeit wurde gestoppt. Insgesamt wurden | |
| allein in Westdeutschland 1,2 Millionen mehr Jobs geschaffen, als sonst | |
| vorhanden gewesen wären. Das hat allerdings sieben Jahre gedauert. Genauso | |
| wird es jetzt mehrere Jahre dauern, bis sich die negativen Effekte des | |
| Mindestlohns mit aller Deutlichkeit zeigen. | |
| Die Hartz-Reformen haben dazu geführt, dass die Reallöhne auch in der | |
| Mittelschicht stagnierten, während die Gewinne der Unternehmen | |
| explodierten. Ist das gerecht? | |
| Die Lohnzurückhaltung hat die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen | |
| Arbeitnehmer verbessert. | |
| Weniger freundlich ausgedrückt: Deutschland hat die Löhne gedrückt und dann | |
| gigantische Exportüberschüsse aufgehäuft. Aber es können nicht alle Länder | |
| exportieren, es muss auch jemand importieren. | |
| Was immer die Überschüsse erklärt: Deutschland ist heute in Relation zu | |
| Südeuropa zu billig. Volkswirte der Investmentbank Goldman Sachs haben | |
| geschätzt, dass Deutschland im Vergleich zur restlichen Eurozone um 31 | |
| Prozent teurer werden müsste, um Italien & Co. wieder wettbewerbsfähig zu | |
| machen. | |
| Wir sind überrascht. Plädieren Sie jetzt dafür, dass die deutschen Löhne um | |
| 31 Prozent steigen sollen? Eben waren Sie noch gegen den Mindestlohn. | |
| Zitieren und plädoyieren ist nicht dasselbe. Wer sich anpasst, Südeuropa | |
| oder wir, ist noch offen. Man darf jedenfalls nicht damit anfangen, die | |
| Löhne anzuheben. Zunächst müssen die Firmen mehr investieren. Wenn die | |
| Betriebe ihre Kapazitäten ausweiten, nimmt die Beschäftigung zu – und dies | |
| führt dann nachfrageseitig zu höheren Löhnen. | |
| Aber warum sollten Unternehmen stärker investieren, wenn die Löhne | |
| stagnieren? Dann fehlt die Nachfrage, die zusätzliche Kapazitäten rentabel | |
| macht. | |
| Zur Rentabilität brauchen Firmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, | |
| keinen höheren Konsum in Deutschland, sondern niedrige deutsche Löhne. Auch | |
| im Inneren eines Landes hängt nicht alles an der Konsumnachfrage. Wenn | |
| Firmen Maschinen kaufen, steigt für die Lieferanten die Nachfrage. | |
| Also setzen Sie weiter auf Lohndumping und Exportüberschüsse, obwohl Sie | |
| selbst zugeben, dass Deutschland schon zu billig ist. | |
| Nein. Nachfrageseitig dürfen die Löhne hochgezogen werden, aber man darf | |
| sie nicht hochzwingen. | |
| Um ehrlich zu sein, verstehen wir Ihre Logik nicht. | |
| Manche wollen die Logik internationaler Wettbewerbsmärkte nicht verstehen | |
| und begreifen auch nicht, dass man Nachfrage entfalten kann, wenn man die | |
| Güter nicht aufisst, sondern sie auf einen großen Kapitalhaufen legt. | |
| Wir verstehen Sie immer noch nicht, aber kommen wir zu einem anderen Thema: | |
| Sie waren 33 Jahre lang Professor. Was würden Sie heutigen Studenten raten? | |
| Die Volkswirtschaftslehre kann ich jedem empfehlen. Es gibt allerdings viel | |
| mehr Betriebe als Völker. Daher müssen die meisten Volkswirte hinterher als | |
| Betriebswirte arbeiten. | |
| Viele Wirtschaftsstudenten sind mit der Lehre sehr unzufrieden. So | |
| kritisiert das „Netzwerk plurale Ökonomik“, man würde zu wenig über | |
| Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte der Wirtschaftstheorie lernen. | |
| Auch das Thema Geld komme nicht vor. | |
| Beides stimmt nicht, doch sollte man der Wirtschaftsgeschichte und der | |
| Theorie der Finanzmärkte mehr Gewicht geben. | |
| Kritisiert wird auch, dass immer nur das Mainstream-Dogma der Neoklassik | |
| gelehrt würde. Alternative Ansätze würden nicht behandelt. | |
| Mit dem Anliegen, die Volkswirtschaftslehre völlig neu erfinden zu wollen, | |
| kann ich nichts anfangen. Die analytische Kraft der pluralen Ökonomen ist | |
| gering. Ich sehe hier vor allem den Fluchtversuch vor den schwierigen, aber | |
| sehr ergiebigen mathematischen Modellen der Neoklassik. | |
| Für Sie gibt es also nur eine gültige Theorie, nämlich die Neoklassik? | |
| Die Volkswirtschaftslehre ist zwar keine Naturwissenschaft wie die Physik, | |
| sondern eine Gesellschaftswissenschaft. Aber sie hat ein sehr stabiles und | |
| flexibles Denkgebäude errichtet, dessen Themenspektrum vom | |
| Kasinokapitalismus bis zur Klima-Externalität reicht. | |
| Aber es gibt doch viel Streit unter den Ökonomen. Beispielsweise wurden Sie | |
| vom Nobelpreisträger Paul Krugman massiv kritisiert. | |
| Die Überlappungen der Meinungen sind größer als die von der Presse betonten | |
| Unterschiede. | |
| Wo wohnt Krugman in Ihrem Gebäude der Neoklassik? | |
| Er lebt heute im keynesianischen Nebenzimmer. | |
| Aber Sie residieren in der Prachtwohnung im ersten Stock? | |
| Finden Sie das? Es klingt so, als würden Sie die Neoklassik bewundern. | |
| 29 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
| Malte Kreutzfeldt | |
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