# taz.de -- Popkulturelle Gegenwartsdiagnose: Am besten laut und blutig | |
> Jens Balzer erzählt in „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“, was in der | |
> Popmusik seit der Jahrtausendwende aus seiner Sicht geschah. | |
Bild: Der Katastrophen-Karriere der Sängerin Amy Winehouse widmet Balzer ein K… | |
Popkritik, hat der Berliner Journalist Jens Balzer einmal postuliert, sei | |
dazu da, die Welt deutlicher zu machen, in dem sie diese verkompliziert. | |
Dem liege der Wunsch zugrunde, Dinge zu verändern. | |
In seinem nun erschienenen Buch bildet der 47-Jährige Ausschnitte jener | |
komplizierten Welt ab: „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“ basiert auf | |
Rezensionen, Interviews und Essays, die zuerst in der Berliner Zeitung | |
erschienen sind, in deren Feuilleton Balzer als stellvertretender Leiter | |
arbeitet. In seinem Buch versucht er, die losen Gedanken und Eindrücke aus | |
seinen Artikeln in eine stringente Erzählung zu fassen. | |
Sein „Panorama der Gegenwart“ verfolgt hauptsächlich eine These: Der weiß… | |
heterosexuelle Musiker befindet sich in der Legitimationskrise. Dafür dehnt | |
Balzer die Gegenwart weit in die Vergangenheit aus. Sein Buch beginnt um | |
das Jahr 2000, als die beiden Indierock-Eintagsfliegen The Strokes und The | |
Libertines einen raketenhaften Aufstieg hinlegen, mit anschließender | |
kreativer Bruchlandung. Seither also sei die Welt von Pop von Umbrüchen | |
gekennzeichnet. Von diesen heute weitgehend vergessenen Bands pirscht sich | |
Balzer chronologisch an diverse Stars und Hypes der nuller und zehner Jahre | |
heran. | |
Vor allem das Drastische, Größenwahnsinnige, Sadomasochistische in | |
künstlerischen Inszenierungen erscheint ihm als Diagnose der Pop-Gegenwart: | |
Am besten laut, blutig und mit vielen Körpersäften. Daher beschäftigt er | |
sich eingehend mit Subgenres wie Witchhouse und Dronemetal und dem von ihm | |
so bezeichneten „Digitalfeminismus“ der Künstlerinnen Grimes und Holly | |
Herndon. Daraus wird ersichtlich, Popkritik ist in ihrem Abweichlertum | |
immer subjektiv. In Balzers Panorama fehlen stilbildende KünstlerInnen wie | |
Dirty Projectors, Nite Jewel oder Moodymann, weil sie nicht ins Schema der | |
Drastik passen. | |
## Argumentative Schwächen | |
Seine popkulturelle Gegenwartsdiagnose zeigt argumentative Schwächen, wenn | |
er anhand der Katastrophen-Karriere der an ihrer Drogensucht gestorbenen | |
Sängerin Amy Winehouse einem rückwärtsgewandten Opferkult huldigt. | |
„Grausame Frauen haben es leichter im Leben“ ist das Kapitel über die | |
Britin überschrieben, deren Privatleben in den Mühlsteinen von | |
Regenbogenpresse und Internet pulverisiert wurde. | |
Etwas eindimensional gerät auch eine Abhandlung über „die neuen Gammler und | |
Freaks“ des Folk, in dem etwa der US-Singer-Songwriter Devendra Banhart | |
allein anhand des Äußeren – seinem Vollbart – als regressive Figur | |
charakterisiert wird, weswegen seine kompositorischen und textdichterischen | |
Collagen unter den Tisch fallen. | |
An anderer Stelle im Buch beschreibt Balzer dagegen musikalische Phänomene | |
wie die subsonischen Bässe und Scherenschnitt-Beats des Dubstep mit | |
chirurgischer Präzision, dann blinkt die Gegenwart in jeder Zeile auf. Qua | |
seines Amtes – als Redakteur einer Lokalzeitung – muss er der Erotik des | |
Mainstreams erliegen, ausführlich setzt er sich mit dem „Konsumimperativ“ | |
auseinander, der Besuchern bei Hallen- und Stadienkonzerten mit Rammstein | |
und Lady Gaga begegnet. | |
## Blick auf das Randständige | |
Aber, auch das zeichnet sein Schaffen aus, er verliert das Randständige | |
nicht aus dem Blick und misst einem Auftritt der tribalistischen | |
Dancepunkband Gang Gang Dance im Berliner Club Berghain ebenbürtige | |
Bedeutung zu. Über den Tellerrand Berlins hinaus blickt Balzer eher selten. | |
Dabei wuchert Pop wie eine Schlingpflanze überall in der Welt. Auch das | |
migrantische Moment der heimatlosen Pop-KünstlerInnen ist ihm keine | |
Betrachtung wert. | |
Während die Gesetzmäßigkeiten von Gender in jedem Kapitel untersucht | |
werden, blendet Balzer in seiner Pop-Gegenwart Race und Class weitgehend | |
aus. Erst am Schluss kommt er kurz auf die „Black Lives Matter“-Bewegung zu | |
sprechen, die zu einer Repolitisierung im US-HipHop beigetragen hat. | |
Rassismus ist ein Thema, das nicht nur im HipHop eine große Rolle spielt. | |
„Pop. Ein Panorama der Gegenwart“ fokussiert dagegen auf weiße | |
KünstlerInnen. Auch bei der Auswahl deutschsprachiger Akteure werden nur | |
große, teils kontroverse Akteure wie Freiwild und Helene Fischer | |
berücksichtigt. Das gegenwärtige Schaffen des hiesigen Underground – | |
Fehlanzeige. | |
Balzer versteht sich als Gesellschaftsreporter. Seine Texte in der Berliner | |
Zeitung bestechen durch ihren frechen Charme, sie sind unterhaltsam, auch | |
weil er ab und an als Instanz darin auftaucht, die dem heiligen Ernst des | |
teutonischen Popkritikers auch mal seine eigene Lächerlichkeit vorspiegelt. | |
Diese angenehmen Selbstzweifel sind im Buch getilgt. Stattdessen kommt ein | |
Ich zum Vorschein, das immer wieder seine Bedeutung als Interviewer und | |
Anwesender von Konzerten betont. | |
Die Unmittelbarkeit seiner Zeitungstexte sind einer These gewichen, der | |
vieles, zum Glück aber nicht alles untergeordnet wird. Am interessantesten | |
lesen sich daher jene Kapitel, in denen Balzer schreibt, worüber andere | |
nicht berichten: über Inszenierungen und Konzerte von Visual-Key-Bands | |
etwa, jener aus Japan importierten, sexuell fluiden Teen-Popszene, die | |
ihre Ästhetik maßgeblich aus den Bilderwelten von Manga-Comics bezieht. | |
18 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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