# taz.de -- Avantgarde-Festival: Der leuchtende Apfel im Dunkeln | |
> „Decession“ erforscht in der Berliner Volksbühne die Möglichkeiten von | |
> elektronischen Performances am Rande der Absurdität. | |
Bild: Claire erzeugt bei ihrer Schmerzlinder-Story ein angenehmes Kopfkribbeln | |
Bekanntes Szenario: eine nackte Industriehalle, elektronische Musik wummert | |
aus den Boxentürmen, doch statt zu tanzen starrt die Crowd erwartungsvoll | |
in Richtung Bühne. Oben: ein einsamer Typ im Nebel am Laptop, vielleicht | |
hat er ein bisschen Hardware dabei, ein paar Knöpfe, an denen er | |
effektheischend drehen kann. Vielleicht gibt es sogar Visuals. Der | |
Veranstalter hat Live-Elektronik versprochen, auf der Bühne passiert: | |
eigentlich nichts. | |
„Alles was wir sehen, ist der im Dunkeln leuchtende Apfel und eine Person, | |
deren genaue Handlungen sich uns nicht erschließen.“ So bringt | |
Soundkünstler Robert Henke diese Art Erfahrung in seinem Essay | |
„Live-Performance im Zeitalter des Super-Computing“ auf den Punkt. Hat | |
elektronische Musik ein „Live-Problem“? Und wenn ja, welche performativen | |
Alternativen bleiben dem Bedroom-Produzenten, der sich aufgrund | |
marktwirtschaftlicher Verschiebungen, in denen der Plattenverkauf den | |
Lebensunterhalt nicht mehr sichert, gezwungen sieht, sein | |
Schlafzimmerstudio zu verlassen und zur Bühnenperson zu avancieren? | |
Diesen Fragen widmete das Decession-Festival, das zum ersten Mal stattfand, | |
eine Samstagnacht in der Berliner Volksbühne. Den Kuratoren Jens Balzer und | |
Martin Hossbach ging es darum, dass sich die Felder Pop, Performance, | |
Bildende Kunst und Video gegenseitig durchdringen und herausfordern. | |
Gefordert ist auch das Publikum, mit allen Sinnen. Kaum hat man das Theater | |
betreten, fühlt man sich wie auf einer Clubtoilette am Sonntagmorgen. | |
Konzeptkünstler Physical Therapy beschallt das Foyer mit einer Kakofonie | |
aus Partysounds und einem entfernt wirkenden DJ-Set. In gut gelaunter | |
Kaufhausmanier träufelt er sein selbst kreiertes Parfüm auf die Handknöchel | |
der Vorbeilaufenden. „CLUB“ ist die Summe der olfaktorischen Reize, die | |
eine durchtanzte Clubnacht mit sich bringt: Asche, Bier, Schweiß, Sperma. | |
Hackerin Claire Tolan spielt mit sinnlichen Reizen à la „Autonomous Sensory | |
Meridian Response (ASMR)“, einer Entspannungsmethode, bei der durch | |
Flüstern oder Rascheln ein angenehmes Kopfkribbeln erzeugt wird. In ihrer | |
Performance „Die Siedler von Shush“ erzählt sie von einer Welt, in der das | |
schmerzlindernde Shush zur alternativen Währung geworden ist. | |
## Wo bleibt der Mehrwert der Tee-Zeremonie? | |
Im Hauptsaal ist das Entspannungserlebnis jäh verflogen. Dröhnender | |
Industrial-Techno, dazu futuristische 3-D-Animationen von Michael Guidetti. | |
Und da ist er: James Whipple alias M.E.S.H., Sinnbild des | |
Bedroom-Produzenten, der am Rande der Bühne autistisch an seinen Knöpfen | |
dreht. Auch PAN-Labelchef Bill Kouligas lässt bei seiner avantgardistischen | |
Performance lieber das Setting aus leuchtenden Glasfaserkabeln und die | |
Opernsängerinnen für sich sprechen. Das Duo Amnesia Scanner verzieht sich | |
bei seiner von holländischen EDM-Raves inspirierten | |
„720-Grad-Multimedia-Show“ sogar komplett und beobachtet das orgiastische | |
Spektakel aus Licht, Konfetti und rotierenden Projektionen aus sicherer | |
Entfernung. | |
Lars Holdhus alias TCF wird zum performativen Highlight. Die sechs | |
3-D-gedruckten Reproduktionen seines eigenen Rachens quäken elektronisch, | |
während er selbst als tanzende Animationsfigur in Boxershorts auf einem | |
Screen zu sehen ist. Simultan hält er eine Teezeremonie ab und hantiert | |
dabei so hektisch mit seinem Laptop, den Steuergeräten und dem | |
Wasserkessel, dass man sich fragt, worin der Mehrwert dieser zwar | |
unterhaltsamen, aber irgendwie nicht ganz ernst zu nehmenden Darbietung | |
liegt. | |
„Wie kann ich dem Publikum nahebringen, was auf der Bühne vor sich geht, | |
ohne dies durch das Verteilen von langen Texten oder einen zehnminütigen | |
Einführungsvortrag zu versuchen?“, fragt Robert Henke in seinem Essay. | |
Decession gibt darauf keine Antwort, braucht es doch einiges an | |
Hintergrundinformation, um manche Absurdität zu begreifen. Decession stellt | |
jedoch die richtigen Fragen und schlägt eine neue Denkrichtung ein, die im | |
fahlen Schein des Laptops noch ungeahntes performatives Potenzial erkennt. | |
1 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Laura Aha | |
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