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# taz.de -- Dreckige Teppiche auf Tiktok: Hochdruckreinigung als Katharsis
> Internetvideos vom Teppichsäubern können glücklicher machen als
> Hochkultur. Es ist Magie im Spiel und ein Happy End.
Bild: Internetvideos vom Teppichsäubern können glücklicher machen als Hochku…
Als ich mal in München lebte, gab es im Bahnhofsviertel ein Kino namens
Neues Gabriel. Auf dem Weg dorthin lag eine Teppichwerkstatt, in deren
Schaufenster ein rund um die Uhr eingeschalteter Flachbildfernseher stand.
Er zeigte das immergleiche Programm: dreckige Teppiche, die erst
einshampooniert, dann hochdruckgereinigt und schlussendlich – mein
Lieblingspart – mit einem besenartigen Schaber bearbeitet wurden, der das
schmutzige Wasser aus den Fasern drückte.
Was soll ich sagen, dieses Video löste verlässlich mehr in mir aus als so
mancher Musst-du-dir-unbedingt-angucken-Hypefilm im Neuen Gabriel. Das
Spektakel im Schaufester zog mich dermaßen in den Bann, dass ich nicht
daran vorbeigehen konnte. Und trat ich aus dem Neuen Gabriel, war ich in
Gedanken schon nicht mehr beim Film, sondern bei meinen Teppichen und
diesem Schaberdings. Swuuusch machte das, swuuuuscchhhhhh, das
Schmutzwasser floss aus dem Bild, der Teppich war ein bisschen sauberer und
das Leben schön. Außerdem: 1a-Kameraführung, allürenfreie Darsteller
(Gliedmaßen in Gummistiefeln), stabile Dramaturgie. Das Neue Gabriel hat
mittlerweile zugemacht, die Teppichvorführungen laufen immer noch.
München ließ ich irgendwann hinter mir, aber die Teppiche holten mich
wieder ein. Als ich mir nämlich in einer schwachen Minute einen
Tiktok-Account erstellt und den Algorithmus der App auf meine Vorlieben
dressiert hatte. So was geht schnell, ein paar Herzchen hier und da, schon
weiß Tiktok, wonach du dich sehnst. Und plötzlich, ganz dicht vor meinem
Gesicht: ein Teppich aus der Vogelperspektive, absurd schmutzig, darauf ein
Mann in Gummi-Overall mit Hochdruckreiniger und Laugengemisch in einer
Gießkanne. Im Schnelldurchlauf behandelt er den Teppich immer und immer
wieder mit Seifenwasser und meinem geliebten Besen-Schaber-Teil und macht
kreisförmige Bewegungen mit einem rasenmäherähnlichen Elektronikgerät, das
wunderbar effektiv den Dreck aufwirbelt. Nach jedem neuen Durchgang wird
das ursprüngliche Muster ein bisschen sichtbarer; es ist nicht besonders
hübsch, aber egal. Zum Schluss zieht er den Teppich mit dem Staubsauger ab.
Fertig.
Meine Top-3-Teppiche auf Tiktok sind [1][„aus einem Kohlenkeller“] (Wer
legt einen Teppich in den Kohlenkeller?), [2][„von Würmern besetzt“] (Bitte
was!?!), [3][„unter einem Baum gefunden worden“] (Er hatte sich vermutlich
dort niedergelassen, um zu sterben. Lasst ihn in Frieden).
Die Kommentare sind durchweg euphorisch: „Wow, danke, ich war nicht bereit
dafür!“, schreibt Christina. Die Nahaufnahme des Schaums bei Minute zwei
habe ihr fast den Atem geraubt, „das Trocknen am Schluss: himmlisch!“ Ein
User namens Roach kann ohne Teppichreinigung nicht mehr einschlafen, für
Rina helfen die Videos bei Panikattacken. Andere wiederum sind [4][ganz
entzückt vom ASMR-Effekt], diesem Kribbeln in Kopf und Nacken, das unter
anderem durch sanfte akustische Reize ausgelöst werden kann. Das kickt bei
mir zwar leider nicht, trotzdem fühle ich mich verstanden. Ich fühle mich
gesehen.
Doch woher diese Begeisterung? Klar ist, dass die Teppich-Videos in die
diffuse [5][Internet-Kategorie „oddly satisfying“], also „seltsam
befriedigend“, fallen. Dazu gehört allerlei Harmloses bis Verstörendes:
Seifenstücke, die in dünne Scheiben zerfräst werden; Hydraulikpressen, die
Alltagsgegenstände zusammensmashen; Knete, die durch Knoblauchpressen zu
kleinen Würsten gedrückt wird; und natürlich der Satisfaction-Godfather,
das Pickelausdrücken. Oft geht es um repetetive Muster, um die Herstellung
einer Ordnung oder um eine optische Vermittlung von Haptik. Und an alldem
bleibe auch ich regelmäßig hängen, wirklich beglückend finde ich aber nur
die Teppiche.
Zum einen liegt das wohl an der Magie des Make-over: ein vernachlässigter
Gegenstand, dem sich wieder zugewendet wird. Eine Geschichte der Rettung,
ein Nachhaltigkeitsmärchen quasi! Wobei es so viele Waschdurchgänge sind,
dass mit Benzin übergießen und anzünden in den meisten Fällen wohl die
ökologischere Variante wäre.
Zum anderen hat Saubermachen sowas generell Heilsames. Während man so
daliegt in der eigenen Wohnung, die mal wieder nass durchgewischt werden
könnte, wird wenigstens irgendwo auf der Welt ein Teppich hingebungsvoll
hochdruckgereinigt. Tiktok-User Devon schreibt dazu: „Ich wünschte, ich
könnte mein Leben so reinigen wie dieser Kerl den Teppich.“ Ganz vielleicht
ist es auch das.
10 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.tiktok.com/@mountainrugcleaning/video/7152849635185396997?_t=8a…
[2] https://vm.tiktok.com/ZMYPf1Xuw/
[3] https://www.tiktok.com/@mountainrugcleaning/video/7186651486493936901?_r=1&…
[4] /ASMR-Phaenomen/!5011769
[5] https://www.reddit.com/r/oddlysatisfying/
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
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