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# taz.de -- ASMR-Phänomen: Das große Kribbeln im Kopf
> Ein wohliges Kribbeln am ganzen Körper, wenn Papier knistert? Leute mit
> dem ASMR-Syndrom kennen das. Das Phänomen ist weit verbreitet.
Bild: Und, kribbelt es schon?
Zu sehen sind zwei Frauen. Eine mit langen künstlichen Fingernägeln in
grellem Pink. Eine andere mit dickem blondem Zopf, der geflochten über
ihrer Schulter liegt. Die Fingernägel-Frau streichelt der Zopf-Frau über
den Rücken, die Finger gleiten über den Strickstoff der Jacke.
Langsam wandern sie von rechts nach links, verschwinden zwischendurch im
unteren Bildrand. Dann öffnen die Finger mit den pinken Nägeln den blonden
Zopf, zerteilen ihn sorgfältig in einzelne Strähnen, fahren hindurch.
Schließlich bürsten sie geduldig 18 Minuten lang die blonden Haare.
[1][Das Video der Schwestern], die einander die Haare bürsten, wurde bei
YouTube mehr als 260.000 Mal geklickt. Es zählt zu den beliebtesten
Aufnahmen in der ASMR-Community.
ASMR ist ein Phänomen, von dem niemand wirklich weiß, ob es existiert,
Ärzte nicht, und auch nicht Psychologen. Ebenso wenig Wissenschaftler. Die
Einzigen, die daran keinen Zweifel haben, sind die ASMRtists selbst. So
nennen sich die Menschen mit diesem speziellen Gefühl. Im Netz schreiben
sie, dass bestimmte Geräusche, die sie hören, oder bestimmte Dinge, die sie
betrachten, bei ihnen ein angenehmes Kribbeln im Kopf oder eine Gänsehaut
auslösen. Sie nennen das Phänomen Autonomous Sensory Meridian Response,
kurz ASMR. In Deutschland sind laut Homepage Hunderte von diesem Gefühl
betroffen, weltweit dürften es mehrere Tausend sein.
## ASMR-Test mit Videos
Auf der [2][deutschen ASMR-Internetseite] kann jeder mithilfe von zwei
Videos zunächst testen, ob er ASMR hat. Auf dem ersten sitzt eine Frau im
Schneidersitz auf dem Boden, die Beine sind nackt, die Fingernägel
künstlich. Ihr Freund sei von einem Trip aus Asien zurückgekommen und habe
landestypische Leckereien mitgebracht, flüstert sie auf Englisch. Geduldig
präsentiert sie verschiedene japanische Süßigkeiten. Sie knistert mit dem
Papier der Verpackungen, spricht mit sanfter, leiser Stimme, die mehr an
die eines Mädchens als an die einer erwachsenen Frau erinnert. Das geht
fast eine halbe Stunde so.
Die Süßigkeiten unterscheiden sich kaum voneinander, alle sehen verboten
künstlich und süß aus. Aber darum geht es nicht. Der Trigger, wie die
Geräusche im ASMR-Kult genannt werden, ist für manche das Knistern mit der
Verpackung, für andere das sanfte Flüstern, für dritte die Kombination aus
beidem. „Japanese Candy Soft Speaking“ heißt das Video, das bei zahllosen
Betrachtern angenehme Gefühle freisetzt.
„So was ist genau mein Ding“, sagt Donna, 26, und ASMRtist. Schon als Kind
stand sie auf das Knistern von Papier, konnte diese Empfindung aber nicht
zuordnen. Auf YouTube hat sie sich zunächst Unboxing-Videos angesehen. Das
sind Filme, auf denen jemand beispielsweise einen Computer auspackt. „Das
hat mich fasziniert. Doch ich wusste nicht, was es ist.“
## In die Fetisch-Schublade
So geht es wohl den meisten ASMRtists. Im Internet schreiben sie, wie froh
sie sind, endlich Gleichgesinnte und einen Namen für die Empfindung
gefunden zu haben. Die meisten sind zwischen 16 und 29 Jahre alt und leben
mit ASMR häufig bereits seit ihrer Kindheit. „Von vielen habe ich gehört,
dass sich das Gefühl beim Gute-Nacht-Geschichten-Vorlesen zum ersten Mal
eingeschlichen hat“, sagt Donna.
Aber die Betroffenen halten sich für eine Ausnahme und erzählen nicht
davon. Heute kann sich Donna mit Verbündeten in Foren austauschen, anderen
Videos empfehlen, selbst Tipps bekommen. Noch vor wenigen Jahren hatte sie
keine Ahnung, was das Papiergeknister da mit ihr macht. „Man posaunt das
nicht herum. Menschen, die kein ASMR haben, können es oft nicht
nachvollziehen und bezeichnen es als Schwachsinn“.
Andere stecken das Phänomen in die Fetisch-Schublade. Tatsächlich dürfte es
manch einem gefallen, wenn Frauen einander zärtlich über Rücken und Haare
streicheln oder Haarbürsten mit eindeutiger Form liebkosen. In einem
anderen Video öffnen Frauenhände geduldig ein Überraschungsei. Zunächst
wickeln sie das Papier ab, dann drehen sie das Ei ein wenig im Kreis,
umfassen es. Das mutet dann schon eher anstößig als entspannend an.
Doch der Begriff Gehirnorgasmus, der für sexuelle Fantasien und die
Stimulation von Bedürfnissen spricht, ist in der Szene äußerst unbeliebt.
„Natürlich wird ASMR von einigen sexualisiert, und sicherlich gucken sich
manche die Videos genau aus diesem Grund an“, sagt Donna. Es gebe sogar
ASMR-Porno-Videos. „Aber wenn es jemandem um Befriedigung geht, bietet das
Internet eine viel größere und bessere Auswahl als in der ASMR-Welt“, sagt
Donna.
Dass jemand anzüglich frage, ob ich nicht auch mal meine Füße zeigen
könnte, ist eine absolute Seltenheit. Dagegen, dass ASMR etwas mit Sex zu
tun hat, sprechen auch die besonders abstrusen Videos. Eines zeigt
jemanden, der in einer Tonne voller Waschpulver buddelt, [3][ein anderes
einen Fön], der zehn Minuten lang ein Handtuch trocken pustet.
Einige ASMR-Aufnahmen entspannen die Betrachter, andere stimulieren
offenbar die entscheidenden Synapsen im Gehirn. „Bei mir funktioniert nicht
jedes Video“, sagt Donna. Auch nicht jedes Knistergeräusch. ASMR sei ein
sehr individuelles Phänomen, das sich bei jedem anders äußern kann.
Manchmal nur marginal, manchmal ganz grundsätzlich. Rollenspielvideos etwa,
auf denen eine Zahnreinigung oder den [4][Besuch im Schönheits-Salon]
simuliert wird, lassen Donna völlig kalt. „Theoretisch kann nahezu alles
ASMR sein, solange irgendein Betrachter dabei diese Empfindungen hat.“
Regeln gebe es nicht. So etwas wie eine Richtlinie sei aber, dass man nicht
zu grob sein dürfe. „Bei einem Schachspielvideo sollten die Figuren nicht
zu laut bewegt werden. Auf keinem ASMR-Film sollte das Fenster offen oder
überhaupt andere Geräusche als der jeweilige Trigger zu hören sein.“
Für Donna gehört ASMR zum Leben, sie guckt die Videos je nach Lust und Zeit
mehrmals in der Woche. Auch deshalb hofft sie, dass ASMR bald
wissenschaftlich untersucht wird. „Es ist einfacher, sich darüber lustig zu
machen, als nach der Ursache zu fragen“, sagt sie: „Wir möchten ernst
genommen werden und uns nicht rechtfertigen müssen.“
24 Apr 2015
## LINKS
[1] http://www.youtube.com/watch?v=9LnZrptwj6Q
[2] http://www.asmr-deutschland.de/
[3] http://www.youtube.com/watch?v=1AK-eOx4RWc
[4] http://www.youtube.com/watch?v=SlUOLe1UVGQ
## AUTOREN
Hanna Voss
## TAGS
Video
Gedöns
IG
Gedöns
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