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# taz.de -- Türkeistämmige Community in Berlin: „Heute schlimmer als gester…
> Wie reagiert die türkeistämmige Community auf den Putschversuch in der
> Türkei? Eine Momentaufnahme aus Berlin.
Bild: Eine Art urbaner Marktplatz der größten türkischen Stadt außerhalb de…
Berlin, Kottbusser Tor, eine Art urbaner Marktplatz der größten türkischen
Stadt außerhalb der Türkei. Bis vor Kurzem galt dieser Ort in vielen Medien
wegen seiner Drogenszene und aggressiven Taschendiebe als einer der
gefährlichsten der Stadt.
Heute mag niemand hier über Drogen und Taschendiebe sprechen. Am Tag vier
nach dem gescheiterten Putschversuch sprechen alle über die Türkei. Und es
ist, als würde sich der Himmel wie Beton auf die Gemüter der Menschen
legen, die auf der Straße gehen oder sitzen, um ihren Tee zu trinken und zu
reden, zu reden und zu reden.
Ayşe Kaya ist 26 Jahre alt, vor zweieinhalb Jahren floh sie aus der Türkei
und lernt nun Deutsch. „Wäre ich nicht gegangen, wäre ich heute im
Gefängnis“, sagt Ayşe Kaya. Zu Hause in Adana, einer Stadt in der
Südtürkei, hat sie an der Uni Demonstrationen organisiert und angeführt.
„Für die Menschenrechte“, sagt sie, „für Meinungsfreiheit, für
Bildungsgerechtigkeit, für die Frauen, für Toleranz“. Sie lächelt –
traurig, aber selbstbewusst.
„Als sozialistischer Mensch“, fügt sie hinzu, „noch dazu als Frau“ sie…
sie für sich keine Zukunft in ihrem Land. „In der Türkei ist es heute
schlimmer als gestern, und jetzt ist es schlimmer als heute Morgen“, sagt
sie und atmet tief durch. „Erdoğan ist ein faschistischer Diktator.“
## „Ich verstehe meine Leute nicht mehr“
Ein Mann Ende fünfzig, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will,
sitzt vor einer Bäckerei und hält den Putschversuch für eine schlechte
Operette. Eine Frau Anfang zwanzig sitzt mit ihrer Mutter vor einem
Restaurant. „Ich verstehe meine Leute nicht mehr“, sagt sie.
Ein Mann Ende sechzig, der sich als Kadir Ketenci vorstellt, sitzt mit zwei
Freunden vor einer Dönerbude und sagt, seit er die Türkei vor 30 Jahren
verlassen habe, sei er nicht mehr dort gewesen. „Dieser Staat hat mir
nichts gegeben“, sagt er.
Er hat in der Türkei versucht, eine Bäckerei aufzubauen, aber bekam keinen
Fuß auf den Boden. In Deutschland hat er erfolgreich Cafés und Restaurants
geführt. Er sagt, dass Deutschland sein Land geworden ist. Nun, als
Rentner, der nach wie vor nicht zurückwill in die alte Heimat, fühlt er
sich in seiner Enttäuschung über die Türkei nur bestätigt. „Erdoğan wird
uns das Osmanische Reich zurückbringen“, sagt er.
## Kein Einziger spricht für Erdoğan
Wen man an diesem Nachmittag am Kotti fragt: Kein Einziger spricht für
Erdoğan. Sie alle sprechen von Theater, von Machtspielen, von
Demokratieverlust und von Diktatur. Sie machen sich Sorgen um ihr Land.
Aber dies ist nur eine Momentaufnahme. Die türkeistämmige Community in
Berlin ist mit 200.000 Menschen groß, sie stellt fast ein Zehntel aller
Türkeistämmigen in der Bundesrepublik. Diese Community ist divers, sie
denkt divers. Und: Sie lebt und arbeitet nicht nur am Kottbusser Damm.
So war es auch nicht verwunderlich, dass nach Bekanntwerden des
Putschversuchs in der Türkei in Berlin viele Türkeistämmige dem Aufruf von
Erdoğan folgten, auf die Straßen zu gehen. 3.000 Menschen schwenkten in der
Nacht zum Samstag vor der türkischen Botschaft türkische Flaggen, einige
skandierten „Allahu akbar“ (Gott ist am größten), manche trugen T-Shirts
mit dem Aufdruck „Türkiye“. 3.000 Menschen. Mitten in der Nacht.
Bekir Yilmaz, Unternehmer und Vorsitzender der Türkischen Gemeinde zu
Berlin (TGB), sagt, dass diese Demonstration eine spontane Zusammenkunft
von Menschen gewesen sei. Zu Recht und aus demokratischer Überzeugung habe
das türkische Volk den Putsch abgewehrt.
Auf die Frage, welchem politischen Lager die Menschen vor der Botschaft
zuzurechnen seien, reagiert er gereizt: „Wenn jemand diejenigen in Lager
einordnen will, die sich alle allein unter der türkischen Fahne versammelt
haben, dann soll er das machen. Ich mach das nicht!“ Yilmaz ist ein
einflussreicher Akteur in der türkeistämmigen Community – und steht gerade
für deren konservativ-nationalistischen Teile. Gegen die
Armenien-Resolution organisierte er eine patriotische Demonstration vor dem
Brandenburger Tor.
Mit anderen setzte er die Berliner Şehitlik-Moschee unter Druck, bis diese
ein Fastenbrechen mit Bundestagspräsident Norbert Lammert und zwei
türkeistämmigen Abgeordneten absagte – wegen der Annahmen der
Armenien-Resolution durch den Bundestag.
„Es war unverantwortlich von Erdoğan, die Menschen auch in der Türkei auf
die Straße zu schicken“, sagt dagegen Erdil Yaşaroğlu. „Wie konnte er na…
dem Putschversuch wissen, wie stark das Militär noch ist? Was hätte alles
passieren können!“
## Angst um seine Familie in der Türkei
Yaşaroğlu, 57 Jahre alt, betreibt das Café Kotti. Postmigrantisches
Publikum mischt sich dort mit biodeutschen Berlinerinnen und Berlinern.
„Ich bin nach dem Militärputsch 1980 nach Deutschland gekommen“, erzählt
der Mann in den elfenbeinweißen Kleidern, als er sich für eine Tasse Kaffee
in die abgewetzten Polster eines Sofas sinken lässt. Nun hat er Angst um
seine Familie in der Türkei. „Erdoğan hat durch diesen Putsch seine Macht
stabilisiert“, sagt er, „er hat es sogar geschafft, Linke zu vereinnahmen.�…
Wo geht die Reise nun hin in der Türkei? Yaşaroğlu weiß es nicht. „Zurück
zum Mittelalter“, sagt er. „Wir Linken brauchen wohl neue Konzepte.“
Im Südblock, einem anderen der migrantischen und linken Kreuzberger
Treffpunkte, erzählt Erkin Erdoğan bei einem schwarzen Tee seine Sicht der
Dinge. „Zwei Mal haben Leute versucht, unseren Vereinssitz anzuzünden“,
sagt der etwa 30-Jährige mit grauen Strähnen im Haar. Nationalisten und
Konservative würden gegen sie hetzen, weil sie sich nicht nur für kurdische
Belange, sondern auch für Demokratie in der Türkei einsetzten.
Er ist Aktivist von HDK-Berlin-Brandenburg, dem „Demokratischen Kongress
der Völker“ – einem Bündnis aus dem Umfeld der prokurdisch-linken Partei
HDP, die für viele DemokratInnen in der Türkei der große Hoffnungsträger
war – bis sie es bei den Wahlen im Juni 2015 ins Parlament schaffte und die
AKP die absolute Mehrheit verpasste: einer der Gründe dafür, dass der Krieg
in den kurdischen Gebieten begann.
## „Keinen anderen Weg als den demokratischen“
Erkin Erdoğan verurteilt den Putschversuch. Genauso wie das AKP-Regime, das
nun davon profitiert. „Dabei gibt es für die Lösung der Probleme keinen
anderen Weg als den demokratischen.“ Dafür will die HDK am Freitag in
Berlin demonstrieren. Auch um die deutsche Politik zu einer klaren Linie
gegenüber der türkischen Regierung zu bewegen. „Das ist die einzige
Möglichkeit, der Spaltungspolitik entgegenzuwirken, die die AKP unter
Türkeistämmigen in Deutschland betreibt“, sagt er.
„Es ist nicht immer einfach, als Brücke zwischen all den Gruppen zu
agieren“, seufzt Ayşe Demir, Verbandssprecherin vom Türkischen Bund
Berlin-Brandenburg (TBB). Sie sagt, dass die Satzung der TBB es untersagt,
Stellungnahmen zu explizit „türkei-politischen“ Themen abzugeben. Ihrer
Organisation gehe es um Partizipationsrechte von türkeistämmigen Personen,
gegen Diskriminierung und nicht um türkische Politik. „Ich bin aber
zuversichtlich, dass die Polarisierung innerhalb der türkeistämmigen
Community nicht dieselben Ausmaße annehmen wird wie in der Türkei.“
So sieht es auch Erkin Erdoğan von HDK-Berlin-Brandenburg. Gerade die
migrantische Community in Berlin habe die Chance, ein friedliches
Miteinander vorzuleben. Immerhin teile sie „die Erfahrung der
Diskriminierung“ in diesem Land – durch Deutsche.
20 Jul 2016
## AUTOREN
Susanne Messmer
Volkan Ağar
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