# taz.de -- Debatte Europäische Union: Let's Brexit! | |
> Der Austritt Großbritanniens wäre die Chance für den Aufbau eines | |
> gerechten Europa. Die EU vertritt nur die Interessen des Kapitals. | |
Bild: Weg mit den Gittern, aber wie? Gemeinsam könnte es gehen | |
In der gesamten Debatte über Großbritanniens Ausstieg aus der EU hört man | |
so gut wie keine linken Aufrufe zum Brexit. Denn der Chef der Labour Party, | |
Jeremy Corbyn, hat sich in der Vergangenheit zwar kritisch zur EU geäußert, | |
doch auch er spricht sich jetzt für den Verbleib aus. Auch die großen | |
britischen und irischen Gewerkschaften lehnen den Austritt ab. | |
Viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter betonen, dass die EU die | |
Arbeitnehmerrechte erheblich gestärkt hat. Sie sagen auch, dass die Öffnung | |
der europäischen Märkte bedeutend dazu beigetragen hat und beiträgt, in | |
Großbritannien Jobs zu schaffen. Die Linke fürchtet außerdem, dass es ihrem | |
Ruf schaden könnte, wenn sie auf derselben Seite stehen wie Erzkonservative | |
und Neofaschisten. | |
Dennoch: Gerade als Gewerkschafter und Sozialist sehe ich das entschieden | |
anders. Zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Linker – auch kleineren | |
Gewerkschaften und Parteien – bin ich für den Brexit. Die Europäische Union | |
vertritt zuallererst die Interessen des Großkapitals auf Kosten der | |
Arbeitnehmerschaft. | |
Dem Argument, dass die EU die Arbeiterrechte gestärkt hat, halte ich | |
entgegen: Die EU-Mitgliedschaft hat diverse britische Regierungen in den | |
vergangenen 40 Jahren nicht davon abgehalten, die Rechte der Gewerkschaften | |
gesetzlich stark einzuschränken. | |
## EU immer undemokratischer | |
Es gibt meiner Ansicht nach außerdem keinen Zweifel daran, dass die Union | |
immer undemokratischer wird. Der Lissabon-Vertrag beispielsweise hat den | |
Einfluss der kleinen und peripheren Staaten bei den Entscheidungen | |
erheblich eingeschränkt. Oftmals sind es nur noch die Bürokraten der EU, | |
die wichtige Entscheidungen vorbereiten, was es viel schwieriger macht, sie | |
abzulehnen. | |
Man muss sich nur mal die Verhandlungen über TTIP oder die EU-Richtlinie | |
zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen anschauen: Sie weiten einerseits die | |
Macht der privatwirtschaftlichen Unternehmen aus und verhindern auf der | |
anderen Seite Transparenz. Deutlicher könnte kaum werden, dass es den | |
maßgeblichen EU-Entscheidungsträgern darum geht, die Gesetze des freien | |
Markts in allen Mitgliedsstaaten durchzusetzen. | |
Die EU ist ein Club der Reichen, der sich über die vergangenen vier | |
Jahrzehnte von dem sozialdemokratischen Konsens, der die Nachkriegszeit | |
prägte, entfernt hat. Inzwischen wurden systematisch neoliberale Prinzipien | |
und Gesetze durch Abkommen und Verträge durchgesetzt, darunter etwa der | |
Euro-Stabilitätspakt. | |
Großbritannien hat nicht den Euro eingeführt und untersteht deshalb auch | |
nicht dem EU-Sanktionsregime. Doch Brüssel würde ganz sicher erheblichen | |
Druck auf die britische Regierung ausüben, wenn wir über längere Zeit den | |
Sparzielen des Stabilitätspakts nicht entsprechen würden. | |
## Rassismus wird toleriert | |
Die Vereinbarung, die Griechenland letztes Jahr aufgezwungen wurde, | |
unterstreicht, was Mick Cash, Generalsekretär der kleinen Gewerkschaft RMT, | |
einmal gesagt hat: Die EU ist gleichbedeutend mit „Privatisierung, | |
Austerität und dem Angriff auf die Demokratie“. Im griechischen Fall wurden | |
die Sparmaßnahmen nicht nur rücksichtslos, sondern auch gegen das Votum der | |
Bevölkerung in ihrem Referendum durchgeboxt. Wo ist da das viel gerühmte | |
„soziale Europa“ mit seinem Solidaritätsversprechen unter den | |
Mitgliedsstaaten? | |
Im Gegensatz zu der Entschlossenheit der EU, harte Wirtschaftssanktionen | |
über Griechenland zu verhängen, müssen die Länder, die sich weigern, | |
Flüchtlinge aufzunehmen, rein gar nichts befürchten. Viele EU-Staaten haben | |
die humanitäre Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren | |
Aufruf, den Kriegsflüchtlingen zu helfen, einfach ignoriert. Sie weigern | |
sich, innerhalb der Europäischen Union Verantwortung zu teilen. | |
Diese Staaten, die die getroffenen Vereinbarungen einfach nicht umsetzen, | |
werden nicht nur von Sanktionen verschont. Ihr schäbiges Verhalten wurde | |
auch noch mit dem EU-Türkei-Deal belohnt – einem Abkommen, das die | |
Flüchtlinge in einen Staat abschiebt, der in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit | |
und Menschenrechte alles andere als EU-Standards erfüllt. | |
Dieser laxe Umgang mit den Mitgliedsstaaten, die sich weigern, Flüchtlinge | |
aufzunehmen, drückt mehr aus als den Unwillen, Intoleranz und Rassismus zu | |
bekämpfen. Es stellt sich die Frage, ob über dieses inakzeptable Verhalten | |
hinweggesehen wird, um in Osteuropa jene rechten Regierungen an der Macht | |
zu halten, die gegen Russland eingestellt sind – eine Strategie, die sicher | |
nicht dem Frieden dient. | |
## Nicht abschrecken lassen | |
Die existenzielle Krise der EU ist eine Chance, etwas Neues und Besseres | |
aufzubauen als wir jetzt haben. Gerade in den ökonomisch schwächeren | |
Staaten mit hoher Arbeitslosigkeit wie Griechenland, Spanien, Portugal, | |
Zypern und Irland ist es sehr verlockend, ein anderes Europa aufzubauen – | |
ein Europa, in dem es um Kooperation und Solidarität geht. Mit europäischen | |
Strukturen, die sich an den Arbeitnehmern orientieren, ließe sich viel | |
nachhaltiger Beschäftigung und Wohlstand schaffen als mit allem, was der | |
Neoliberalismus zu bieten hat. | |
Es gibt durchaus Anlass zur Hoffnung, dass ein solches Projekt Realität | |
werden könnte, denn in den europäischen Schlüsselstaaten Deutschland und | |
Frankreich haben sich progressive soziale Bewegungen formiert. In | |
Deutschland hat sich in jüngster Zeit radikaler Widerstand gegen das | |
TTIP-Abkommen entwickelt. In Frankreich hat sich ein breites Protestbündnis | |
gebildet, das gegen die geplanten und von der EU unterstützten neuen | |
Arbeitsmarktgesetze auf die Straße geht. | |
Aus all diesen Gründen ist jetzt der ideale Zeitpunkt, die Europäische | |
Union zu demontieren und sie durch neue Strukturen zu ersetzen, die die | |
Bedürfnisse der Arbeitnehmer statt die Unternehmensprofite im Blick haben. | |
Progressive Menschen in Großbritannien brauchen sich deshalb nicht davon | |
abschrecken zu lassen, dass auch die Rechten den Brexit befürworten. Wir | |
sollten das Referendum vielmehr als eine gute Gelegenheit sehen, mit | |
unserer Stimme für den Austritt unserem Leben eine positive Wende zu geben. | |
30 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Tommy McKearney | |
Tommy McKearny | |
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