# taz.de -- Verfassungsrechtler über Polen: „Das hat Revolutionscharakter“ | |
> Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Jerzy Stępień warnt vor der | |
> Regierung. Die blockiert seit Wochen die Arbeit des polnischen | |
> Verfassungsgerichts. | |
Bild: Unter sich: der PiS-Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński auf einer Demo… | |
taz: Herr Stępień, im Wahlkampf hatte die regierende Partei Recht und | |
Gerechtigkeit einen „guten Wandel“ versprochen … | |
Jerzy Stępień: Im Gegenteil, wir haben es mit einem schlechten Wandel zu | |
tun, mit dem Versuch eines Putsches von oben. Revolutionen beginnen fast | |
immer im Parlament, so auch jetzt hier. | |
Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, sprach vom „Charakter | |
eines Staatsstreichs“ und musste dafür viel Kritik einstecken. Aber er | |
hatte wohl recht damit. | |
Ja, absolut. Ich selbst spreche ebenfalls von einem Staatsstreich. | |
Staatspräsident Andrzej Duda gab schon durch die Begnadigung seines | |
Regierungskollegen Mariusz Kamiński das Signal, dass die PiS-Politiker sich | |
nicht groß an das Recht halten werden. Denn Kamiński war zwar wegen | |
Amtsmissbrauchs verurteilt worden, doch konnte Duda ihn nach geltendem | |
Recht nicht begnadigen, da das Urteil noch nicht rechtskräftig war. Einen | |
solchen Fall hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Symptomatisch | |
sind aber die Attacken auf das Verfassungsgericht und die Ankündigung eines | |
„guten Wandels“ auch im Gerichtswesen. Das hat Revolutionscharakter. Polen | |
soll ein anderer Staat werden. | |
Was strebt die neue Regierung unter Beata Szydł o an? | |
Es geht um die totale Unterordnung des Staates unter die Fuchtel eines | |
einzigen Mannes, des Vorsitzenden der PiS – Jarosław Kaczyński. Er ist es, | |
der allen die Regieanweisung gibt. | |
Gab es in den Jahren 2006 bis 2008, als Sie selbst Präsident des | |
Verfassungsgerichts waren, ähnliche Attacken auf Polens Demokratie? | |
Die PiS hatte damals keine absolute Mehrheit im Parlament, konnte also das | |
Verfassungsgericht nicht angreifen. Bitte berücksichtigen Sie, dass | |
Jarosław Kaczyński ein Politiker ist, der völlig unfähig zu jeden | |
Kompromiss ist. Er war nicht einmal in der Lage, sich mit den eigenen | |
Koalitionären ins Benehmen zu setzen. | |
In dieser Zeit hat das Verfassungsgericht das sogenannte | |
Durchleuchtungsgesetz kassiert, mit dem ein großer Teil der polnischen | |
Bevölkerung auf Kontakte mit dem ehemaligen kommunistischen | |
Staatssicherheitsdienst überprüft werden sollte. Wurde noch ein PiS-Gesetz | |
für verfassungswidrig erklärt? | |
Die Stasi-Überprüfung war der Hauptkonflikt, dann ging es aber auch um die | |
sogenannte Bankenkommission, die die Tätigkeit der Nationalbank und | |
insbesondere ihres Direktors Leszek Balcerowicz untersuchen sollte. Wir | |
haben damals das Gesetz als einen Angriff auf die Unabhängigkeit der | |
Nationalbank gewertet und für verfassungswidrig erklärt. Das war der zweite | |
große Konflikt mit der PiS. | |
Was für Erfahrungen machten Sie mit der nachfolgenden Koalition aus PO und | |
PSL? | |
Auch da mussten wir einige Gesetze für verfassungswidrig erklären. Aber | |
außer der PiS hat niemals eine Partei die Urteile des Verfassungsgerichts | |
infrage gestellt. Keine Regierung und kein Parlament ist begeistert, wenn | |
ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, aber das Gericht genoss | |
allgemein Respekt. Das ist nun anders. Wir Verfassungsrichter waren auf | |
Angriffe vorbereitet, denn Jarosław Kaczyński hatte in der Vergangenheit | |
mehrfach das Gericht scharf kritisiert. Aber niemand hat damit gerechnet, | |
dass er versuchen würde, es völlig auszuhebeln. | |
Was wäre eine Verfassung ohne Verfassungsgericht? | |
Das wäre so wie ein Strafgesetzbuch ohne Staatsanwälte und Richter. Ohne | |
Verfassungshüter ist eine Verfassung lediglich eine Sammlung frommer | |
Wünsche, wie es der Verfassungsrechtler Hans Kelsen einmal sagte. | |
Will die PiS verfassungswidrige Gesetze verabschieden? | |
Wir haben es mit einer ungewöhnlich gefährlichen Situation zu tun. Sicher | |
wird auch diese Regierung einmal abtreten, aber vorher kann sie | |
tiefgreifenden Schaden im polnischen Staat anrichten. Es ist nicht | |
vorherzusehen, in welchem Zustand Polens Demokratie in einigen Jahren sein | |
wird. Eine Phase des permanenten Chaos wie jetzt führt zum Wunsch der | |
Gesellschaft nach einem starken Mann – einem „Führer“, der wieder für | |
Ordnung und Sicherheit sorgt. Wir kennen das aus der Geschichte. | |
Versteht die Mehrheit der Polen, was da vor sich geht? | |
Ja, davon bin ich überzeugt. Noch wollen sich viele Wähler nicht | |
eingestehen, einen schweren Fehler begangen zu haben. | |
Was steht am Ende? Eine neue Verfassung? | |
PiS hatte schon 2007 eine neue Verfassung in der Schublade, allerdings | |
waren die Änderungen nicht so radikal wie heute. Jetzt wartet sie | |
wahrscheinlich nur den geeigneten Moment im Sejm ab, um eine neue | |
Verfassung zu verabschieden – wahrscheinlich wieder nachts, innerhalb von | |
Minuten und gegen geltendes Recht. Das Verfassungsgericht als | |
Kontrollinstanz ist ja bereits lahmgelegt. | |
Müsste Polens Präsident dann neu vereidigt werden? | |
Ja, sicher. Aber alte Verfassung, neue Verfassung – für Duda dürfte das | |
ziemlich egal sein. | |
Aber muss er nicht eines Tages dafür geradestehen? | |
Tatsächlich könnte er eines Tages für Verfassungsbruch vor dem | |
Staatsgerichtshof stehen. Aber Duda ist überzeugt davon, dass es dazu | |
niemals kommen wird, da das Volk ihn so sehr liebt und die derzeitige | |
Regierung lange an der Macht bleiben wird. Duda ist somit aber zur Geisel | |
Kaczyńskis und seiner PiS geworden. Er hat nur eine Aufgabe: alles zu | |
akzeptieren, was ihm zur Unterschrift vorgelegt wird. Beim kleinsten | |
Konflikt mit Kaczyński droht ihm die Vernichtung – politisch und medial. | |
Das mächtige Medienimperium rund um Radio Maria in Torun wird auf den | |
kleinsten Zuruf von Kaczyński reagieren. | |
Kann man das Verfassungsgericht überhaupt politisch verhandeln, ohne die | |
Verfassung zu ändern? | |
Nein. Polen hat eine Verfassung, und die gilt es zu respektieren. Der | |
angebliche Kompromiss sieht den Rücktritt aller Verfassungsrichter vor, | |
wobei dann acht von der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) | |
vorgeschlagen würden, und sieben von der PiS. Das wäre die totale | |
Politisierung des Verfassungsgerichts. Das ist in der Verfassung so nicht | |
vorgesehen. Zudem kann niemand die einmal gewählten Richter zum Rücktritt | |
zwingen, und auch der Sejm kann sie nicht abberufen. Die Verfassung sieht | |
auch nicht vor, dass ein Richter zweimal vereidigt wird. | |
8 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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