# taz.de -- Bürgerrechtler über Proteste in Polen: „Wir sind die Arbeitgebe… | |
> Mateusz Kijowksi vom „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ über Lech | |
> Walesa, die Diktatur der Mehrheit und den Aufbau der Zivilgesellschaft. | |
Bild: „Wir, das Volk“ gegen die Macht der politischen Mehrheit im Parlament. | |
taz: Immer mehr Menschen protestieren in Polen gegen die Politik der gerade | |
mal seit Monaten regierenden Recht und Gerechtigkeit. Wie viele waren es | |
diesmal in Warschau ? | |
Mateusz Kijowksi: Die Polizei sagt 15.000, die Warschauer Stadtverwaltung | |
geht von rund 80.000 aus, und wir – als noch sehr junge Organisation – sind | |
noch nicht fertig mit dem Zählen. Aber alle zusammen, also die Warschauer | |
und die aus ganz Polen mit Bahn und Bus angereisten Demonstranten, das | |
können gut und gerne bis zu 200.000 Leute gewesen sein. Wir wollten diesmal | |
zeigen, dass wir viele sind. Dass sich im ganzen Land Widerstand regt gegen | |
den Demokratieabbau in Polen. Dass die Regierung, aber auch ganz Europa und | |
die Welt künftig mit unserer Oppositionsbewegung „Komitee zur Verteidigung | |
der Demokratie“ (KOD) rechnen müssen. Das ist uns mit dieser | |
Großdemonstration gelungen. | |
„Wir, das Volk“ skandierten die Leute immer wieder. Das haben die Polen | |
noch nie gerufen. Warum jetzt? | |
1989 hielt Lech Walesa, der Anführer der Gewerkschaft- und Friedensbewegung | |
Solidarnosc, eine bis heute berühmte Rede im amerikanischen Kongress. Er | |
begann sie mit den Worten „Wir, das Volk“, berief sich also ganz klar auf | |
die amerikanische Verfassung und verband so den polnischen Freiheitswillen | |
mit dem amerikanischen Traum von einem besseren Leben. Das Motto unserer | |
Demonstration hat mit den aktuellen Angriffen auf Walesa zu tun, aber auch | |
mit dem Abbau der Demokratie in Polen. | |
Bislang lacht die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit | |
(PiS) über die Demonstrationen. Wie reagieren Sie auf das PiS-Argument, | |
dass „die Demonstrationen doch am besten zeigen, wie gut die Demokratie in | |
Polen“ funktioniere? | |
Die PiS, die ja auch die absolute Mehrheit im Parlament stellt, hat das | |
Verfassungsgericht lahmgelegt. Das ist so, als würde man aus einem Auto die | |
Bremsen ausbauen und während der Fahrt auf der Autobahn sagen: „Alles | |
prima, das Auto fährt doch! Und die Bremsen? Wozu Bremsen?“ Das polnische | |
Verfassungsgericht kann zur Zeit umstrittene Gesetze nicht überprüfen, wie | |
etwa das über die öffentlich-rechtlichen Medien, die Unabhängigkeit der | |
Staatsanwaltschaft die Erweiterung der Geheimdienstbefugnisse. Das | |
Verfassungsgericht ist unsere Bremse vor den Gefahren einer | |
parlamentarischen Mehrheit, die sich nur noch für die Macht interessiert. | |
Ohne Verfassungsgericht kann unser liberale Demokratie ganz leicht in eine | |
Diktatur der Mehrheit abdriften. | |
Was kann KOD neben den Demonstrationen noch tun? | |
Die Demonstrationen sind ein Signal an die Welt, dass in Polen etwas schief | |
läuft. Aber unser zentrales Ziel ist die Schaffung einer Zivilgesellschaft | |
mündiger Bürger. Als wir 1989 die Freiheit und Souveränität wiedererlangt | |
hatten, gab es ein paar ganz klare Ziele: Systemtransformation, | |
Wiederaufbau der Wirtschaft. Mitgliedschaft in der EU und NATO . Darüber | |
haben wir aber etwas Wichtiges vergessen: „Wer sind wir, und wer wollen wir | |
sein?“ Darüber müssen wir uns erneut Klarheit verschaffen. | |
Stimmten die Polen in den Wahlen nicht für den Wandel hin zu mehr sozialer | |
Gerechtigkeit und mehr nationalem Ansehen in der Welt? | |
Das war nur ein Teil der Gesellschaft. Das Problem ist, dass die polnische | |
Gesellschaft inzwischen so gespalten ist, dass es keinen sinnvolle Dialog | |
mehr gibt. An die Stelle von Argumenten sind Beleidigungen und Intrigen | |
getreten. Das befördert die Entpolitisierung vieler Menschen. Sie ziehen | |
sich enttäuscht vom öffentlichen Leben zurück. Wir von KOD wollen einen | |
neuen Dialog eröffnen und den Leute klarmachen, dass sie selbst Einfluss | |
auf die Politik in diesem Land nehmen können. | |
Wie wollen Sie auf jemanden zugehen, der ihnen auf den Kopf zusagt, dass | |
Sie ein „Pole der übelsten Sorte“ sind, weil sie mit ausländischen | |
Journalisten reden? | |
Ja, es ist schwer. Aber der Weg zu einem erneuten Dialog kann nur sein, | |
sich besser zuzuhören. Was also meint der PiS-Parteivorsitzende Jaroslaw | |
Kaczynski mit diesem Satz?. Möglicherweise steckt ja mehr hinter dieser | |
Beleidigung, als wir zunächst denken. | |
Wer engagiert sich in KOD? | |
Das sind Leute, die dem Abbau der Demokratie in unserem Land nicht tatenlos | |
zusehen sollen. Am 19 November 2015 gründete ich eine Facebook-Gruppe, die | |
den Nerv der Zeit getroffen hatte. Immer mehr Menschen schlossen sich an. | |
Inzwischen sind rund um KOD in ganz Polen rund 20.000 Menschen aktiv. | |
Gibt es bereits feste Strukturen? | |
Noch ist alles in Bewegung, doch es gibt bereits spontan entstandene | |
Regional- und Stadtgruppen, die ein Netzwerk bilden. Wir haben das „Komitee | |
zur Verteidigung der Demokratie“ inzwischen auch offiziell bei Gericht | |
registriert, so dass wir in Kürze Vereinswahlen in Warschau und ganz Polen | |
abhalten können. In zwei bis vier Monaten sollten wir dann eine großes | |
Treffen aller Delegierten organisieren, um KOD eine stabile Struktur zu | |
geben. | |
Wie finanziert sich KOD bislang? | |
Angefangen haben wir mit Crowdfounding im Internet, danach haben wir eine | |
öffentliche Spendenaktion gestartet, die man beim Innenministerium anmelden | |
muss. Und auf einer unserer Demos haben wir Sammelbüchsen getestet, die | |
sich ebenfalls sehr gut bewährt haben. Die Leute wollen uns unterstützen | |
und spenden sehr gerne. Aus diesem Grund ist uns auch wichtig, dass alles | |
genau und offiziell abgerechnet wird. | |
Gibt es schon eine Zukunftsvision? Soll KOD eine Partei werden? | |
Auf gar keinen Fall. Wir sind eine Bürgerrechtsbewegung, und das wollen wir | |
bleiben, auch über die nächsten Wahlen hinaus. Wir möchten unter den Polen | |
das Bewusstsein dafür schärfen, dass sie als Staatsbürger die Arbeitgeber | |
der Politiker sind, die als Saisonarbeiter innerhalb von vier Jahren | |
bestimmte Aufgaben und Projekte erledigen sollen. Der Souverän ist und | |
bleibt das Volk, auch nach den Wahlen. Wir wollen dies den Menschen bewusst | |
machen, also eine eine wirkliche Zivilgesellschaft schaffen. | |
Wenn aber nach den nächsten Wahlen in Polen die Demokratie wieder | |
vollständig etabliert ist, wird KOD dann überflüssig? | |
Nein. Den künftigen Politikern könnte der vorgefundene Zustand ja gefallen. | |
Ich denke, wir haben jetzt begriffen, dass Demokratie nicht einfach gegeben | |
ist, sondern aktiv von möglichst vielen Staatsbürgern mit Leben erfüllt und | |
– wenn nötig – auch verteidigt werde muss. Das wird die Aufgabe von KOD | |
sein. | |
28 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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