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# taz.de -- Mexikos Vorzeigegefängnis: Wo die Bosse tanzen
> Sexarbeit, Drogen und Rockkonzerte sollen keine Seltenheit im Gefängnis
> von Ciudad Juárez sein. Banden haben dort das Sagen. Ein Besuch.
Bild: Häftlinge errichten eine Kirche für den Besuch von Papst Franziskus Anf…
Ciudad Juárez taz | Der „Hinkende“, ein Häftling im grauen Jogginganzug,
wird sie nie vergessen, diese Julinacht im Jahre 2011. Als die Angehörigen
der „Artistas Asesinos“ (“Mordende Künstler“) einen grausamen Rachefel…
gegen die „Aztecas“ im Männergefängnis von Ciudad Juárez vollführten. �…
selbstgebastelte Lanze verfehlte nur knapp meinen Kopf“, erinnert er sich
und zieht die dichten Augenbrauen zum kahlen Schädel hoch.
Auch wenn er so zusammengekauert wie jetzt auf der Betonbank im Schatten
einer Mauer sitzt, wirkt er bedrohlich kompakt. Seine Augen jedoch sind
freundlich und aufmerksam, wie die eines interessierten Kindes. Während er
erzählt, schweift sein Blick unwillkürlich zum Areal 15, den grauweißen
Zellblöcken, wo alles geschah. Der Hinkende konnte sich damals außer
Reichweite der Gitterstäbe flüchten. Diejenigen, zu deren Zellen sich die
Bewaffneten Zugang verschafften, wurden niedergemetzelt.
Als sich die Gefängnisleitung Stunden später mit Hilfe des Militärs Einlass
verschaffte, fand sie grauenhafte Szenen vor. Tote, die aus dem zweiten
Stockwerk geworfen in ihrem eigenen Blut schwammen. Von Kugeln und Stichen
entstellte Körper, mit Besenstielen geschändet. Und doch war das nur eines
von einer langen Reihe blutiger Massaker im damaligen Epizentrum des
sogenannten Drogenkriegs.
Wer ins Innere des Gefängnisses Nr. 3 gelangen will, muss
Sicherheitskontrollen und Schleusen durchlaufen. Mehrere Ringe hoher Mauern
und Stacheldrahtzäune fassen den nebeneinander liegenden Frauen- und
Männerknast von Ciudad Juárez ein, in denen rund 2.800 männliche und 300
weibliche Gefangene einsitzen. Der Hof zwischen den Wachtürmen ist
weitläufig betoniert, nachdem unter früheren Kleingärten klandestine
Waffenarsenale gefunden wurden. „Tanzen gehen“ nennen die Gefangenen den
Hofgang. Außer „Tanzen“ gibt es nicht viel zu tun, auch wenn ein absurd
farbenfrohes Video des Bundesstaates Chihuahua mehr Aktivitäten als in
einer Ferienanlage in der Karibik verspricht.
## Ein lebensferner Ort in Sepia
Der Hinkende kennt das Gefängnis Nr. 3 des Bundesstaats Chihuahua seit dem
Tag, als er zu alt für den Jugendknast wurde, die kahlen Betonwände, der
weite Hof, die hohen Mauern. Alles ist in Grau, Weiß, Braun, Beige
gehalten. Ein lebensferner Ort in Sepia unter greller Wüstensonne. Mit
seinen 41 Jahren hat der Hinkende einen Großteil seines Lebens hier
verbracht. Wegen guter Führung könnte er im September freikommen. Mal
wieder, nach drei Jahren.
Wäre er ein Manager, würde man ihn als innovativ und wagemutig beschreiben.
Doch den Hinkenden interessieren nur Geschäfte abseits der Legalität. Wird
er entlassen, ist er sofort wieder dabei: Autodiebstahl, Grenzschmuggel,
Überfälle auf Geldtransporter. Er sei vom Pech verfolgt, sagt er, denn nie
schaffe er es, Weihnachten im Kreise seiner Familie zu verbringen. Vorher
erfolgt immer schon die nächste Festnahme. Und so wird der stämmige
Kahlkopf zum unfreiwilligen Chronisten der Knastwelt von Ciudad Juárez.
Im Gefängnis begann der Krieg der Kartelle um die mexikanische Grenzstadt
schon bevor die Gewalt auf der Straße losbrach und dann von Militär und
Bundespolizei nochmals potenziert wurde. Während das alteingesessene
Juárez-Kartell mit dem erstarkten Sinaloa-Kartell um die Vorherrschaft
rang, bildete der Knast das Operationszentrum der sie unterstützenden
Drogenbanden – und wurde so auch Austragungsort von Hinrichtungen und
Vergeltungsmaßnahmen unter denjenigen, die die bewaffneten Arme der
Kartelle repräsentierten: Soldaten der zwischen Kolumbien und den USA
agierenden Generalstäbe. 210 Häftlinge starben allein im Jahr 2010, zu
Hochzeiten der Gewalt in Juárez; daneben fast 30 Gefängnismitarbeiter und
ein Direktor, der sich getraut hatte, Bandenchefs strafzuverlegen.
## Das Zertifikat
Die Szenarien der Kriegsjahre seien nicht zu beschönigen, gehörten aber der
Vergangenheit an, versichert Jorge Bisuett, Staatsanwalt für die Umsetzung
strafrechtlicher und juristischer Maßnahmen in Chihuahua und in dieser
Funktion oberste Autorität des Gefängnisses Nr. 3. Im mit dezenter
Beleuchtung ausgestatteten Verwaltungstrakt bietet er Kaffee und süße
Brötchen aus der gefängniseigenen Bäckerei an. Die autonome
Selbstverwaltung der Häftlinge sei seit der Übertragung des Gefängnisses
von lokaler in bundesstaatliche Verantwortung im Jahr 2011 durchbrochen.
Der Jurist mit feingeschnittenem Gesicht und schwarzen Haaren ist erst seit
einem halben Jahr im Amt; das Gefängnis Nr. 3 kannte er schon, als er noch
studierte. „Die Zeiten, in denen die Gefangenen bis an die Zähne bewaffnet
waren, in denen es einen Tabledance-Club auf dem Gelände gab und der
Direktor um Einlass bitten musste, gehören der Vergangenheit an.“ Das
Gefängnis sei im letzten Jahr von der American Correctional Association
(ACA) zertifiziert und mit Preisen ausgezeichnet worden, sagt Bisuett
stolz.
Papst Franziskus besuchte das Gefängnis im Rahmen seiner Mexikoreise im
Februar, insgesamt 36 Millionen Pesos wurden in die Umstrukturierung
investiert. Ein Pilotprojekt, das Mexiko bitter nötig hat. Starben doch
zuletzt ebenfalls im Februar bei Kartellkämpfen in einem Gefängnis in
Monterrey über 50 Menschen. Und erst einen Monat zuvor wurde der im Juli
2015 aus dem Hochsicherheitstrakt entkommene Drogenboss Joaquín „El Chapo“
Guzmán erneut gefasst.
## Im Mittelfeld der „Regierbarkeit“
Die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) spricht in einem aktuellen
Bericht davon, dass eine „Selbstregierung“ der Häftlinge in Mexikos Knäst…
weit verbreitet sei. Durch den andauernden „Drogenkrieg“ seien die
Gefängnisse überfüllt; Verwaltung und Wärter korrumpiert. Neben Narcos und
Killern sitzen Verdächtige ohne Verurteilung, Schuldige wegen
Bagatelldelikten und Unschuldige, die unter Folter aussagten, hinter
Gittern. Das investigative Wochenmagazin Proceso stellt die Zertifizierung
der mexikanischen Knäste deshalb infrage. Und auch im Gefängnis Nr. 3, das
im CNDH-Bericht in der Bewertung der „Regierbarkeit“ im Mittelfeld liegt,
scheinen die gleichen Strukturen vorzuherrschen wie jeher: die der Banden.
Mit bloßem Auge sind die „Aztecas“, die „Artistas Asesinos“ und die
„Mexicles“ kaum voneinander zu unterscheiden. Eine graue Masse bilden die
Häftlinge, die im Gänsemarsch Richtung Essenssaal ziehen. Nur Körpergröße
und Turnschuhfarben scheinen zu variieren. Lediglich an verdeckten Tattoos
und stolzen Handzeichen ist es plötzlich auszumachen, das wichtigste Detail
im Knastleben.
Die Banden haben Tradition in Juárez, der Grenzstadt mit den ausgedehnten
Armenvierteln, deren unverputzte Häuser sich im Nordwesten in die Wüste
fressen und im neuen Süden neben den Weltmarktfabriken stehen, die täglich
im Schichtrhythmus ein Viertel der Bevölkerung verschlucken. Erst der Krieg
des Juárez-Kartells der Brüder Carillo Fuentes mit dem fußfassenden
Sinaloa-Kartell des „Chapo“ machte die Banden zu dem, was sie heute sind:
Stoßtrupps des organisierten Verbrechens. Die „Aztecas“ nahmen ihren Platz
als die „Verteidiger von Juárez“ ein. Die „Mexicles“ wurden vom
Sinaloa-Kartell eingekauft; ebenso die „Mordenden Künstler“, die einst
tatsächlich Graffitis sprühten.
## „La jefita“ wird respektiert
Neutral ist im Gefängnis Nr. 3 lediglich der Bereich der Evangelikalen.
Hier wird nicht „getanzt“, sondern gebetet. Wachen sind nur in diesem
Bereich zu sehen. In den Bereichen der Banden herrschen strenge
Hierarchien, Disziplin und Respekt; die Bosse tragen Schusswesten und
Pistolen. Der Chef der „Aztecas“, Joel Roque Flores alias „Junior“, ein
bulliger Typ, der wegen Hinrichtungen und der Kontrolle des Drogenhandels
im Zentrum von Juárez einsitzt, gibt an, im Knast mehr Macht zu haben als
außerhalb der Gefängnismauern.
„Wenn es eine Struktur im Knast gibt, dann die der Banden“, bestätigt auch
Gesundheitspromotorin Irma Medina mit blitzenden Augen. „La jefita“ wird
sie genannt, die kleine Chefin, die aufgrund ihrer ausgesprochenen
Neutralität von allen respektiert wird. Denn im Gefängnis Nr. 3 bedeutet
die Bandenzugehörigkeit alles. „Wer keine hat, muss sich den Schutz einer
Bande erkaufen.“
Die Wände ihres kleinen Hauses sind überfüllt mit im Knast für sie
angefertigten Holzschnitten und Gemälden. Danksagungen für die Befreiung
von Hautkrankheiten und die Beschaffung von Chemotherapien. Einige stellen
aztekische Göttergestalten dar, beliebtestes Motiv der berüchtigten
„Aztecas“. Seit einem Vierteljahrhundert betreut die resolute Frau
Gefangene – „ihre Gefangenen“. Warum sie mit Mördern arbeite? Ihre Taten
seien nicht zu rechtfertigen, sagt Irma Medina. „Doch hinter jedem Häftling
steht eine Familiengeschichte von Vernachlässigung, Marginalisierung und
Gewalt.“
## Sexarbeit und Drogen
Während hinter Medina ein Dutzend Zierkarpfen das Wasser im Aquarium zum
Schäumen bringen und aus dem Zimmer ihres Sohns Elektrobässe dröhnen, wirkt
sie vollkommen gelassen. Die Gesundheitspromotorin kommt selbst aus armen
Verhältnissen. Sie begann mit Streetwork; erst viel später konnte sie
studieren. Gerade hat sie ein Gesundheitszentrum für Familienangehörige von
Gefangenen außerhalb der Mauern gegründet. Immer wieder wurde sie vom
Staatsdienst suspendiert, weil sie Spritzen und Kondome in den Knast
einschmuggelte. „Offiziell gibt es weder Sex noch Drogen im Gefängnis Nr.
3“, berichtet Medina und verzieht das Gesicht.
Eine weitere Legende also, so scheint es. Denn erst Mitte Februar sorgte
der Fall der 21-jährigen Mariana Ibarra für Furore, die ihr Exmann, Eduardo
„El Lalo“ Soto, Chef der „Mexicles“, in seiner Zelle festhielt und mit …
Tod bedrohte. Die junge Frau berichtete lokalen Medien mit aufgeplatzter
Lippe, dass Soto über sein Handy aus dem Gefängnis illegale Geschäfte
abwickele, seine Zelle luxuriös ausgestattet sei, dass sämtliche illegalen
Substanzen frei verfügbar seien und unkontrolliert auf den Gefängnishof
gelangten. Die Gefängnisleitung dementierte den Vorfall kurz vor dem
Papstbesuch. Ibarra bat in den USA um Asyl.
Der Sonderstaatsanwalt für Delikte gegen Frauen und geschlechterbedingte
Gewalt, Ernesto Jáuregui, wird ihren Fall weiterverfolgen. Ihm unterliegt
auch die Untersuchung von Zeugenaussagen im El-Navajo-Fall, dem bislang
weitreichendsten Verfahren gegen Frauenmorde in der Grenzstadt, die dafür
traurige Berühmtheit erlangte. Junge Frauen, die in den Jahren 2009 und
2010 verschwanden, waren vor ihrer baldigen Ermordung noch im Gefängnis
gesehen worden, wo man sie zu Prostitution und Drogenverkauf zwang.
Sexarbeit, Rockkonzerte und Boxkämpfe seien auch heute keine Seltenheit im
Knast von Juárez, sagen Familienangehörige hinter vorgehaltener Hand.
Dieses Wochenende laden die „Aztecas“, die noch immer mächtigste Bande im
Gefängnis von Juárez, zu einer Wrestlingshow im Areal 15 ein, die sie
organisiert haben. Von einem Vorzeigeknast scheint das Gefängnis Nr. 3
tatsächlich noch weit entfernt zu sein.
11 Apr 2016
## AUTOREN
Kathrin Zeiske
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