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# taz.de -- Aus der Le Monde diplomatique: Ein mörderischer Landstrich
> Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez wird von Drogen, Armut und
> Gewalt beherrscht. Die Politik ist gescheitert.
Bild: Die Armee ist in Ciudad Jurarez präsent, doch die Situation wird nur imm…
Im Jahr 1942 brachten die Vereinigten Staaten und Mexiko das sogenannte
bracero-Programm auf den Weg, das es mexikanischen Saisonarbeitern
ermöglichte, auf Farmen in den USA zu arbeiten. Hunderttausende Campesinos,
die daraufhin für einen Teil des Jahres in die USA strömten, beendeten den
Mangel an billigen Arbeitskräften nördlich des Río Bravo und kehrten
praktisch die Massenausweisung mexikanischer Farmarbeiter um, die während
der Wirtschaftskrise in den 1930ern stattgefunden hatte. 1964 lief das
Programm zur Anwerbung aus, auch weil die amerikanischen Erntearbeiter
gegen die mexikanische Billiglohnkonkurrenz protestiert hatten. Damit sahen
sich die Mexikaner auf einmal von ihren Jobs im Norden abgeschnitten.
Als Reaktion auf die in der Folge steigende Arbeitslosigkeit in Mexiko
legte die mexikanische Regierung ein Industrialisierungsprogramm für die
Grenzregion auf. Sie orientierte sich dabei an Vorbildern wie Hongkong und
Taiwan, die Freihandelszonen eingerichtet hatten, Wirtschaftsenklaven, in
denen ausländische Unternehmen Fabriken bauen und einheimische
Arbeitskräfte anheuern konnten, beispielsweise für die Endmontage von
Fernsehgeräten. Das maquiladora-Programm – abgeleitet von der Mühle
(maquila), deren Betreiber Anspruch auf einen Anteil vom gewonnenen Mehl
hat – bot den US-Unternehmern billige Arbeitskräfte, Steuererleichterungen
und einen Produktionsstandort, den nur wenige Schritte und nicht ein Ozean
vom heimischen Markt trennten.
US-Unternehmen packten die Gelegenheit beim Schopf und eröffneten zwischen
1970 und 1990 zahlreiche Fabriken entlang der Grenze. Ihre Zahl stieg von
zwölf Firmen mit 3 000 Beschäftigten im Jahr 1965 auf 1 929 Firmen mit 460
258 Beschäftigten im Jahr 1990. Ciudad Juárez führte das Feld an und sog
die verarmte Landbevölkerung wie ein Schwamm auf. Zwischen 1950 und 1990
stieg die Bevölkerungszahl von 122 600 Einwohner auf 800 000.
Die Maquiladoras wuchsen noch einmal kräftig nach Abschluss des
Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) und der Abwertung des Pesos
um mehr als die Hälfte im Jahr 1994. Die daraufhin in Mexiko einsetzende
Inflation, die von 1994 bis 1995 von 7 auf 52 Prozent stieg, verbilligte
für die US-Firmen, die Peso mit Dollar kaufen konnten, die mexikanischen
Gehälter um beinahe 30 Prozent. So erklärt sich, dass zwischen 1995 und
2001 die Beschäftigtenzahl der Maquiladoras jährlich um 11 Prozent stieg,
während die mexikanische Wirtschaft im gleichen Zeitraum insgesamt
schrumpfte. In Ciudad Juárez verdoppelte sich die Zahl der Arbeiter und
Arbeiterinnen in den Maquiladoras von 1994 bis 2 000 beinahe, von 140 045
auf 262 805. Und die Bevölkerung der Stadt explodierte zur Jahrtausendwende
auf über 1,2 Millionen.
Die Profite dieses Wachstums flossen hauptsächlich Richtung Norden ab. Die
Arbeiter in diesen Betrieben waren zwar in mancher Hinsicht besser dran als
zuvor auf dem Land, doch der starke Druck auf die Löhne, den die heimische
sowie die zunehmende internationale Konkurrenz erzeugten, ließ sie nicht
aus der Armut entkommen. Die Lebensbedingungen in den wuchernden Slums vor
den Fabriktoren waren erbärmlich. Manche Hütten waren aus Paletten
zusammengezimmert. Von fließendem Wasser, funktionierenden Sanitäranlagen,
ordentlichen Straßen oder Strom konnten viele nur träumen. Schulen,
Krankenhäuser, öffentlicher Nahverkehr, und was es sonst noch an
staatlichen Einrichtungen gibt, waren Mangelware. In vielerlei Hinsicht war
Ciudad Juárez, seinem Namen zum Trotz, keine Stadt, sondern eher ein
Barackenlager für die Heerscharen der Arbeiter und Arbeiterinnen in den
privatwirtschaftlichen Enklaven.
## Gewalt gegen Frauen
Insbesondere für die Frauen war der soziale Stress sehr hoch. Die
Montagebetriebe, die ursprünglich das Arbeitslosenproblem der Männer lösen
sollten, stellten verstärkt ledige junge Frauen ein, die billiger waren und
als anpassungsfähiger galten. Das kam den Bedürfnissen der armen
Landbevölkerung entgegen, da die Haushalte, die wegen der Krise des
Agrarsektors mehr Mitverdiener brauchten, die Mädchen in die Industrie
schicken konnten, wo sie bald die Mehrheit stellten. Doch die Arbeit und
die Arbeitsbedingungen in den Maquiladoras waren hart, die Löhne karg. Die
Mexikanerinnen verdienten nur etwa ein Sechstel dessen, was Frauen jenseits
des Río Bravo bekamen. Zudem wurden die Frauen von den großenteils weiter
arbeitslosen Männern angefeindet – nicht nur weil sie einen Job hatten,
sondern auch weil die unabhängigen, mobilen werktätigen Frauen die
patriarchalische Gesellschaftsordnung infrage stellten.
Als 1994 infolge der Peso-Krise die Armut sprunghaft zunahm, während
gleichzeitig die Maquiladoras fast nur weibliche Arbeiterinnen einstellten,
kam es zu einer Welle der Gewalt gegen Frauen in der Stadt, von der
überwiegend weibliche Beschäftigte der Montagebetriebe betroffen waren. Die
Zahl der Vergewaltigungen, Folterungen und brutalen Tötungsdelikte
(Strangulation, Messerstiche, Verstümmelungen) stieg. Die Polizei ließ die
Morde geschehen und mordete manchmal auch selbst. Und die dunklen Straßen
trugen erheblich zur Unsicherheit der Frauen bei. Zwischen 1993 und 2003
wurden mehr als 340 Frauen getötet. Die „Frauenmorde von Juárez“ waren ein
internationales Thema. Sicher spielten bei einigen dieser Verbrechen
besondere Umstände oder persönliche Motive eine Rolle, aber es kann kein
Zweifel bestehen, dass es sich nicht bloß um eine Anhäufung individueller
Taten handelte. Was hier geschah, war tief in der sozialen Ökologie der
Stadt verwurzelt.
Die 1990er Jahre waren auch das große Jahrzehnt von Amado Carrillo Fuentes
alias „El Señor de los Cielos“ (Herr der Himmel), der 1993 die Herrschaft
des Juárez-Kartells übernommen hatte. Seit 1995 setzte er mit seiner
Flugzeugflotte, die kolumbianisches Kokain nach Juárez brachte, über 12
Milliarden Dollar pro Jahr um. Der Strom der Drogen Richtung Norden floss
parallel zu der Flut legaler Waren, die dank Nafta stetig anschwoll. Mit
den Profiten wurde die Armee von Schmugglern bezahlt, die Tonnen von in der
Stadt lagernden Drogen bewegten. Bis zu seinem Sturz 1997 sorgte El Señor
de los Cielos einigermaßen für Ordnung in seinem Reich. Morde gehörten
natürlich auch hier zum Geschäft, schließlich konnte man Streitigkeiten
nicht vor Gericht austragen, aber es waren bloß 200 bis 300 pro Jahr.
Als das 21. Jahrhundert heraufzog, nahm der Druck weiter zu. Die noch
niedrigeren Löhne in chinesischen Montagebetrieben verlockten manche
Unternehmen, ihre Produktion nach Asien zu verlagern. Und im März 2000
platzte in den USA die Dotcom-Blase, das Land rutschte in die Rezession.
Die mexikanische Wirtschaft folgte ihr im Sturzflug: Schon immer
empfindlich gegenüber den Finanzturbulenzen Amerikas, war sie nun,
angekettet durch Nafta, verwundbarer denn je. Nirgends waren die Folgen so
verheerend wie im Grenzgebiet. Zwischen 2000 und 2002 schmolz die
Beschäftigtenzahl der Maquiladoras regelrecht zusammen, 529
Fabrikationsstätten schlossen, mit ihnen gingen 49 000 von 262 000
Arbeitsplätzen verloren.
## Die Macht der Kartelle
Die Rezession war von kurzer Dauer, schon bald ging die Achterbahnfahrt der
Wirtschaft wieder nach oben, es wurden neue Leute angeheuert, die Stadt
wuchs weiter. 2005 zählte sie 1,46 Millionen Einwohner. Neben dem rasanten
Bevölkerungswachstum gab es in der unterentwickelten Stadt aber noch andere
Probleme. Dem Tod von El Señor de los Cielos im Jahr 1997 folgte die
übliche Krise um die Nachfolge. Im Jahr 2000 schien sich sein Bruder
Vicente Carrillo Fuentes als neuer Mann an der Spitze durchgesetzt zu
haben. Vicente präsentierte sich als „El Viceroy“ (Vizekönig) und festigte
seine Position durch einen Anschluss an das Sinaloa-Kartell von Joaquín „El
Chapo“ Guzmán.
Am 11. September 2004 wurde Rodolfo Carrillo Fuentes, ein weiterer Bruder,
von Killern getötet, die allem Anschein nach im Sold von El Chapo standen.
Drei Monate später fiel Arturo Guzmán Loera, der Bruder von El Chapo, einem
Racheakt zum Opfer. Damit bröckelte die Allianz weiter. Die internen
Querelen des Juárez-Kartells vertieften sich und erschütterten die ohnehin
schwache Position von El Viceroy.
Als das Bündnis zwischen dem Sinaloa- und dem Juárez-Kartell im Jahr 2007
endgültig zerbrach, entspann sich ein gnadenloser Kampf. Die
Gewaltausbrüche im Januar und Februar 2008 sorgten für einen neuen Rekord:
100 Tote in 60 Tagen. Im April schickte Präsident Felipe Calderón in der
„Operation Chihuahua“ tausende Soldaten und Bundespolizisten in die Stadt.
Damit goss er Öl ins Feuer: Ende 2008 zählte man bereits 1 600 Tote.
Im selben Jahr brach noch mehr Unglück über die Stadt herein. Am 15.
September meldete Lehman Brothers Insolvenz an, und die dadurch ausgelöste
ökonomische Talfahrt der USA stürzte die mexikanische Wirtschaft in ihre
schwerste Krise seit 20 Jahren. Der ausländische Kapitalfluss kam zum
Erliegen, was katastrophale Auswirkungen auf die Maquiladoras hatte. Am
härtesten traf es Ciudad Juárez, die Stadt mit den meisten für den Export
produzierenden Montagebetrieben. 50 000 Arbeitsplätze wurden vernichtet, im
Dezember 2009 zählte man nur noch 168 011 Beschäftigte, ein Rückgang um 22
Prozent. Tijuana verlor 21 Prozent seiner Arbeitsplätze. Doch auch die
Mexikaner, die in den USA arbeiteten, traf die Krise hart, sie überwiesen
weniger Geld in ihre Heimat. Dieser für Mexiko wichtige Einkommenszufluss
ging 2009 um 16 Prozent zurück. Landesweit rutschten zwischen 2006 und 2009
10 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze.
## Ein Mord für 85 Dollar
Zum Teil wurde der Niedergang durch ein Wachstum des informellen Sektors
ausgeglichen, in dem zwischen 2008 und 2009 fast eine Million Jobs
entstanden. Denn ein großer Wirtschaftszweig hatte der Krise widerstanden:
die Kartelle. Sie boten vielfältige Möglichkeiten vom Drogenkurier bis zum
Killer, verlockende Aussichten vor allem für die Jugendlichen, die auf der
Straße standen. Einer Studie zufolge gab es allein in Ciudad Juárez 120 000
junge Leute zwischen 13 und 24 Jahren – 45 Prozent aller Jugendlichen der
Stadt –, die weder eine Ausbildung machten noch einer geregelten Arbeit
nachgingen.
Stattdessen liefen viele mit Maschinenpistolen herum, die ihnen ein Kartell
in die Hand gedrückt hatte. Die milchgesichtigen sicarios, die eben noch
die Schulbank gedrückt hatten, waren bereit, für ein wenig Bargeld zu
töten. (Der Preis für einen Mord betrug in Juárez damals 85 Dollar, womit
man eine Woche lang Bier und Tacos bezahlen konnte.) Tausende aus den
wuchernden Slums der Stadt wurden in diesen Krieg hineingezogen. Wer nicht
direkt vom Juárez- oder Sinaloa-Kartell angeheuert wurde, schloss sich
einer der ihnen unterstellten Straßenbanden an.
Der Erzbischof von Mexiko-Stadt, zugleich Primas von Mexiko, erklärte im
katholischen Wochenblatt Desde la Fe, die Finanzkrise in den USA habe das
„Scheitern“ des ungezügelten, spekulativen Kapitalismus gezeigt, und
forderte die Rückkehr zu einer sozial verantwortlichen Wirtschaft.
Präsident Calderón reagierte mit einem rasch zusammengeschusterten
Notprogramm, das die jahrzehntelange Vernachlässigung des sozialen Gefüges
von Juárez nicht wettmachen konnte. Es half etwa so viel, wie wenn man
jemandem, der gerade einen Bauchschuss abbekommen hat, ein Pflaster auf den
Arm klebt.
Doch der Präsident verkaufte sein großsprecherisch „Todos somos Juárez“
(Wir alle sind Juárez) genanntes Programm als ein Maßnahmenbündel, das „die
Ursachen von Gewalt und Verbrechen“ bekämpfen sollte. Dazu gehörten: mehr
Unterrichtsstunden an 71 Schulen der Stadt; eine Kampagne zur Drogen- und
Gewaltprävention namens „Sichere Schulen“; zinsgünstige Darlehen für 1 3…
kleine und mittlere Unternehmen; die Sanierung von 19 öffentlichen Plätzen,
Sportanlagen, Parks und Gemeindezentren in Armenvierteln; der erleichterte
Zugang zum kostenlosen staatlichen Gesundheitsprogramm und die Verdoppelung
der Haushalte (auf 21 808), die vom staatlichen Armutsbekämpfungsprogramm
für einkommensschwache Familien profitierten. Wie wenig all diese an sich
sinnvollen Maßnahmen halfen, zeigte sich, als wenig später auf einem der
neu angelegten Fußballplätze 7 Menschen ermordet wurden.
## Goldgrube Drogenhandel
Für Zuversicht bei den Investoren sorgte ausgerechnet die Tatsache, dass
die Profite aus dem Drogengeschäft so reichlich flossen wie eh und je.
Analysten wunderten sich, wie gut die mexikanischen Banken dastanden,
obwohl es mit der Wirtschaft bergab ging. 30 Milliarden schmutzige Dollar,
die in den Safes der mexikanischen Banken gewaschen wurden, waren, so der
damalige Chef des UN-Büros für Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung Antonio
Maria Costa, „das einzige flüssige Investitionskapital“, das den am Rande
des Zusammenbruchs stehenden Geldinstituten zur Verfügung stand. Der
mexikanische Finanzminister äußerte sich etwas vorsichtiger über die Größe
dieser Goldgrube, als er am 15. Juni 2010 auf einer Pressekonferenz
erklärte, die 41 mexikanischen Banken verfügten über „10 Milliarden Dollar,
deren Herkunft nicht im Rahmen der normalen Wirtschaftstätigkeit unseres
Landes erklärt werden kann“.
Im Oktober 2012 brachte Calderón ein wenig ambitioniertes Geldwäschegesetz
durchs Parlament, das die Regeln für Banken, Spielkasinos und
Kreditkartenunternehmen geringfügig verschärfte. Hinzu kamen Beschränkungen
für Bargeldtransaktionen bei gewissen Immobiliengeschäften sowie beim
Handel mit Fahrzeugen, Edelmetallen, Uhren, Edelsteinen und Kunstwerken. In
Anbetracht der Tatsache, dass 2010 lediglich 2 Prozent der wegen Geldwäsche
eingeleiteten Strafverfahren zu einer Verurteilung geführt hatten, rechnete
jedoch niemand mit einer wirksamen Durchsetzung dieser Maßnahmen.
Statt die finanziellen und systembedingten Krisen anzugehen, verstärkte
Calderón schließlich den Militäreinsatz. In Ciudad Juárez wurden etwa 800
Polizisten entlassen und durch Soldaten und Bundespolizei ersetzt. Bis März
2009 kamen 4 500 Zusatzkräfte, im August waren es schon mehr als 7 500,
weitere Aufstockungen erfolgten im Jahr 2010.
Dabei genoss Calderón die volle Unterstützung der USA. Als die Zahl der
Todesopfer in Mexiko drastisch anstieg, bat er die USA um Kampfdrohnen,
deren Wirkung im Irak und in Afghanistan ihn beeindruckte. Aus Angst vor
Kollateralschäden lehnte das Weiße Haus ab. Als dann im Juli 2009 ein
US-amerikanischer Grenzschützer erschossen wurde, sagte die US-Regierung
Predator-Drohnen zu, allerdings nur für Überwachungseinsätze. Sie wurden
von Piloten in den USA gesteuert, während mexikanische Militärkommandeure
oder Bundespolizisten die Einsatzorte südlich des Río Bravo vorgaben.
## Korruptes Militär
Obama genehmigte später auch die Ausbildung mexikanischer Einheiten durch
die US-Antidrogenbehörde DEA und die CIA. Mit Hilfe von Lügendetektoren,
Drogentests und Sicherheitsüberprüfungen wurde versucht, vertrauenswürdige
mexikanische Einheiten zusammenzustellen. Allerdings wurden diese
Anstrengungen regelmäßig durch eingeschleuste Kartellmitglieder
unterlaufen.
2010 verstärkten sich die Befürchtungen in den USA. Im September reiste
Außenministerin Hillary Clinton nach Mexiko und erklärte, die Kartellkriege
könnten „sich in einen Aufstand verwandeln“. Im Februar 2011 äußerte das
Pentagon die Sorge, es könne zu „einem Umsturz in einem direkt benachbarten
Land“ kommen, eine Entwicklung, die möglicherweise dazu führe, dass
Amerikas „bewaffnete Soldaten unmittelbar an oder jenseits unserer Grenze
einen Aufstand bekämpfen“ müssten. Diese Andeutung einer möglichen
Militärintervention der USA, die Erinnerungen an die mexikanische
Expedition des Generals John J. Pershing im Jahr 1916 sowie den
mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1846 weckte, löste einen Sturm der
Entrüstung aus, woraufhin die US-amerikanische Seite sofort abwiegelte.
Im März 2011 flog Calderón nach Washington. Obama lobte ihn für seinen
„außerordentlich mutigen“ Kampf gegen die Drogenkartelle und erklärte, die
USA stünden Calderón im Drogenkrieg als „zuverlässiger Partner“ zur Seit…
Zur Unterstützung mexikanischer Operationen in Ciudad Juárez veranstalteten
die US-Behörden Brainstormings im texanischen Fort Bliss und entsandten
Verbindungsoffiziere ins Hauptquartier der mexikanischen Bundespolizei in
Ciudad Juárez.
Doch in der viel geplagten Stadt selbst ging das Militär, das alle
Einwohner für potenzielle Narco-Mörder hielt, so brutal mit verdächtigen
Bürgern und der Polizei um, dass es das Problem eher verschärfte als löste.
Und nicht nur das. Angesteckt von der Gier, liefen Soldaten und
Bundespolizisten bald in Scharen zur dunklen Seite der Macht über: Sie
stahlen, vergewaltigten, raubten und kidnappten nach Herzenslust. Die
Bevölkerung, die sie zunächst willkommen geheißen hatte, verlor rasch alle
Illusionen, es kam zu vermehrten Anklagen wegen Fehlverhalten und
Amtsmissbrauch.
Im November 2011 hieß es in einem Bericht von Human Rights Watch: „Statt
die Gewalt einzudämmen, hat Mexikos ‚Krieg gegen die Drogen‘ zu einem
drastischen Anstieg von Mord, Folter und anderen schweren
Rechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte geführt, die das Klima von
Gesetzlosigkeit und Angst in vielen Teilen des Landes nur verschärfen.“
Generalmajor Manuel de Jesús Moreno Aviña, zuständig für die
Militäroperationen im Bundesstaat Chihuahua, wurde seines Postens enthoben
und wegen Folter, Mord und Zusammenarbeit mit Drogenhändlern angeklagt.
## Höchste Mordrate der Welt
Eine schwindelerregende Spirale von Mord, Kidnapping, Erpressung, Raub,
Bandenkämpfen, Rache- und Auftragsmorden erfasste die Stadt.
Maschinengewehrsalven gehörten bald zu den alltäglichen
Hintergrundgeräuschen. In den Straßen lagen Patronenhülsen und viel zu oft
auch verstümmelte oder von Kugeln durchsiebte Leichen.
Im August 2009 verzeichnete Ciudad Juárez die mit Abstand höchste Mordrate
unter allen Städten der Welt. Am Ende des Jahres waren 2 660 Menschen
gewaltsam ums Leben gekommen, fast doppelt so viele wie im Jahr 2008. Im
Jahr 2010 stieg die Zahl der Mordopfer sogar auf 3 116.
Zehntausende flohen zwischen 2007 und 2011 aus der Stadt. Wer Geld und
Papiere hatte, zog über die Grenze nach El Paso oder weiter nach Norden.
100 000 Häuser standen leer, wurden aufgegeben oder waren zerstört. In der
Stadt schien der Tod allgegenwärtig, es war ein Krieg aller gegen alle. Der
US-Journalist Charles Bowden, der damals in Juárez lebte, schrieb in seinem
erschütternden Tatsachenbericht „Murder City“, man habe den Eindruck, dass
die „Gewalt fester Bestandteil der Gesellschaft geworden ist, keine
einzelne Ursache und kein einzelnes Motiv mehr hat und ganz sicher auch
keinen Knopf zum Abschalten“. Die Gewalt sei „wie der Staub in der Luft,
einfach Teil des Lebens“. Oder, so Bowden weiter, „nicht Teil des Lebens,
sondern das Leben selbst“.
Aber das Blutvergießen geschah weder ziellos, noch war es unerklärlich. Es
wurde zwar durch Calderóns Intervention angeheizt, aber letztlich tobte der
Kampf um die Kontrolle der Plazas und die vielen Milliarden Dollar, die dem
Sieger winkten. Als 2011 El Chapo und seine Leute El Viceroy entscheidend
geschwächt hatten und Calderón sich gezwungen sah, seine Soldaten, die nur
Öl ins Feuer gossen, abzuziehen und das Feld den neu aufgestellten Kräften
der Polizei des Bunds und der Stadt zu überlassen, ließ die Gewalt nach,
und am Ende des Jahres ging die Opferzahl auf 2 086 zurück. Im Jahr 2012,
als das Sinaloa-Kartell mehr oder weniger seinen Sieg feiern konnte, sank
die Zahl der Mordopfer auf 750 – immer noch schlimm genug, aber doch eine
deutliche quantitative Veränderung, die sich auch qualitativ niederschlug.
Geschäfte öffneten wieder, die Bürger genossen die relative Ruhe.
Aber das Abflauen des Kampfs der Titanen, diesmal durch einen
Waffenstillstand und nicht durch einen Sieg, brachte keine landesweite
Entspannung. Ganz im Gegenteil: Der Krieg sorgte für eine Ausweitung der
Kollateralkriminalität. Die Tyrannosaurier waren abgezogen, aber auch die
kleineren Velociraptoren richteten immer noch genug Schaden an.
Übersetzung: Gabriele Gockel
8 Oct 2015
## AUTOREN
Carmen Boullosa
Mike Wallace
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