# taz.de -- Kolumne Lügenleser: Wir gegen die | |
> Ex-Linke beschweren sich medienwirksam über „neue Migranten“ am Berliner | |
> „Kotti“ – obwohl sie es besser wissen müssten. | |
Bild: Nicht mehr sexy, nur noch arm: Kreuzberg | |
Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg ist jetzt eine No-go-Area. Wer mit | |
dem Leben davonkommt, darf sich glücklich schätzen. „Wer hier aus der | |
U-Bahn steigt, ist selber schuld“, titelte die Welt. Verantwortlich sind | |
übrigens die „Nafris“, ganz klar. So nennen rheinische Polizisten laut | |
Aktenvermerk Menschen aus dem nordafrikanischen Raum. Die superlinken | |
Anwohner und migrantischen Gewerbetreibenden haben die Schnauze voll, liest | |
man. Wenige Dinge sind dem Wutbürger so lieb wie Menschen mit | |
Migrationshintergrund, die sich anderen Migranten gegenüber negativ äußern. | |
Ob Bücher von Tania Kambouri und Akif Pirinçci oder etwa ein Gastauftritt | |
von Hamed Abdel-Samad bei der AfD – der Jubel ist immer euphorisch, | |
logisch. | |
Und jetzt diese Kreuzberger. Schon immer als Volksschädlinge wahrgenommen, | |
erkennen sie nun angeblich, dass man sich die falschen Freunde ins Boot | |
geholt hat. Da kocht die Volksseele im Internet ausnahmsweise mal nicht vor | |
Wut, sondern vor Schadenfreude. „Das haben die jetzt davon, diese | |
Gutmenschen. Ihre linksversiffte Toleranz fliegt ihnen um die Ohren, | |
Jawolla!“ So las man es von Tausenden Usern, die laut ihren Profilen aus so | |
wohlklingenden und weltoffenen Metropolen wie Radebeul oder Straubing | |
stammen. Aber nicht nur der Bodensatz der Facebook-Hetzer mokiert sich. Die | |
von irgendwelchen Linken bestimmt als „links“ bezeichnete Jungle World | |
stellte fest: „… auch Linke kommen ins Grübeln.“ Nee, oder? Potzblitz! | |
Die Lösung stand schnell fest: Durchgreifen. Null-Toleranz-Politik. Die | |
Panikmacher behaupten, am Kotti habe sich der Rechtsstaat verabschiedet. In | |
einem landesweit ausgestrahlten TV-Bericht wurde München als positives | |
Gegenbeispiel angeführt, die täglichen Razzien hätten den offenen | |
Drogenhandel dort beendet. Na klar. Hat man ja im „Kifferparadies“ | |
Görlitzer Park gesehen, wie sinnvoll monatelange Repression ist. | |
Man müsse die Szene besser überwachen, heißt es ebenfalls. Wenn einem gar | |
nichts mehr einfällt, dann fordert man Kameras. Dabei ist es ein offenes | |
Geheimnis, dass die Polizei in dem angrenzenden Wohnblock NKZ eine eigene | |
Wohnung hat, aus der heraus sie seit Jahren den gesamten Platz überwacht. | |
Dementi folgt. | |
Die Heroin-Szene am Kotti besteht seit den 1980ern. Früher angesiedelt am | |
Nollendorfplatz, vertrieb man die Süchtigen damals. Als sie am Kotti | |
aufschlugen, hörten die Razzien auf. Vor Kurzem kam nun eine relativ | |
überschaubare Gruppe von Taschendieben dazu. Ein Ärgernis für einige, | |
sicherlich. Das eigentliche Thema wäre jedoch die (ökonomische) | |
Verdrängung. | |
Wenn aus ehemaligen Hausbesetzern mit der Zeit Spießbürger werden und grüne | |
Klientelpolitik auf einmal wichtiger erscheint als Themen wie Solidarität, | |
Mietwucher und eine verfehlte Senatspolitik, dann hat das einen Grund: Man | |
fürchtet um seine Pfründe. Stattdessen: Vereinzelte Ex-Linke und Migranten, | |
die sich medienwirksam über die „neuen Migranten“ beschweren, obwohl sie es | |
eigentlich besser wissen müssten. Wir gegen die. Armes Kreuzberg, nicht mal | |
sexy. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. | |
16 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Juri Sternburg | |
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