# taz.de -- Eine Woche im Stadtbad Berlin-Neukölln: Wir müssen das ausbaden | |
> Frauen, Schwule, Flüchtlinge: Im Stadtbad Neukölln hat jede Gruppe ihre | |
> Zeit. Wie sollen wir zusammenleben, wenn wir nicht mal zusammen planschen | |
> können? | |
Bild: Ein Becken für alle? | |
Die Creme fällt runter, man bückt sich. Sieht die Wände: gelb, aus | |
Kunststoff. Das Türschloss: schwarz, beim Einrasten klickt es. Gibt die | |
Cremedose auf, weil sie zu weit über die Fliesen gerollt ist, rüber zur | |
nächsten Kabine. Man stellt sich wieder hin, sieht die Beine, die Arme, die | |
eigene Haut. Sieht Handtücher, Münzen. Einen Kamm. Dann verirrt sich der | |
Blick im Spiegel, man sieht Falten, Muttermale, Adern, Poren. Von der Decke | |
prallt Licht, das Schatten unter die Augen wirft: Man steht im | |
Einzelumkleidenlicht. Jemand ruft: Ilse, biste schon raus? | |
Eine Einzelumkleide im Stadtbad Neukölln. Fast der einzige Ort hier, an dem | |
man allein ist. Man sieht dort: sich. | |
Die anderen hört man. | |
Mein BH ist zu eng. | |
Bitte mal jeder in seinem Rucksack gucken, ob er seine Schwimmflügel hat! | |
Wie die Tür quietscht, ey. Macht mich echt aggressiv. | |
Tüten rascheln. Reißverschlüsse werden aufgezogen. Das Quietschen nasser | |
Badelatschen; das dumpfe Plopp, wenn ein Schließfach zufällt. | |
Dauernd dröhnen die Föhns im Frauenbereich des Stadtbads, das zwischen | |
Karl-Marx-Straße und Sonnenallee liegt – im Herzen der Berliner Gegend, von | |
der es heißt, sie macht dich hart. Sollte Neukölln überall sein, wie der | |
damalige Bezirksbürgermeister schrieb, dann müsste vor allem das Stadtbad | |
überall sein: als eine der selten gewordenen öffentlichen Einrichtungen, | |
die viele Gesellschaftsgruppen noch vereint. | |
Die Flüchtlinge aus dem C & A-Gebäude um die Ecke kommen am Abend hier her, | |
um zu duschen. Montags dürfen nur Frauen baden, muslimische kommen meist | |
zwischen 14 und 17 Uhr. Die FKK-Stunden am Mittwoch, 20 bis 22.30 Uhr, | |
gelten als Datingstunden für Schwule. Minderheiten erstreiten ihre Rechte | |
dort, wo Sich-frei-Schwimmen am logischsten erscheint: im Hallenbad. Wie | |
tolerant wir sind, zeigt sich im Wasser schnell. Ist die Haut entblößt, | |
entblößt sich bald die Haltung. Halbnackt redet es sich anders. | |
Du bist mit dem nassen Po auf deinem Pullover gesessen! | |
Die Türken benehmen sich überhaupt nicht daneben. Womit wir Probleme haben, | |
sind Libanesen und Palästinenser. | |
Du Huuu-ren-toch-ter-in! | |
Es ist Januar, als in Bornheim, Nordrhein-Westfalen, Flüchtlingen für | |
einige Tage der Zutritt zum Freizeitbad untersagt wird, weil es dort zu | |
Belästigungen gekommen sein soll. Das Verbot gilt für alle männlichen | |
Flüchtlinge aus den drei Asylbewerberunterkünften in der Nähe. | |
Es ist Dezember, als in Hermeskeil, Rheinland-Pfalz, ein Badepass für | |
Flüchtlinge eingeführt wird, ohne den sie nicht mehr ins Hallenbad dürfen, | |
weil sich die Beschwerden gehäuft haben. Die Asylbewerber haben ins Wasser | |
geschnäuzt, heißt es. Sich in Duschräumen rasiert. | |
Es ist November, als in Oranienburg, Brandenburg, ein lokaler NPD-Politiker | |
durch ein Spaßbad schlappt, einen Wachturm und Stacheldrahtzäune auf seinem | |
Rücken tätowiert. Darunter die drei Worte, die auf dem Haupttor des | |
Konzentrationslagers Buchenwald stehen: „Jedem das Seine“. | |
## Die Trans*frau wird vom Badepersonal abgeführt | |
Und es ist November, als A. durch das Foyer des Stadtbads Neukölln läuft, | |
in dem oft kalter Rauch steht und heute Plakate aushängen, wie es sie in | |
deutschen Bädern immer häufiger gibt: „Vor dem Baden mit Seife duschen!“ | |
„Egal, welche Badekleidung eine Frau trägt, sie ist zu achten und zu | |
respektieren!“ A. geht die Steintreppe hoch, zum Frauenbereich. A. ist eine | |
Trans*person: eine Frau, die einen männlichen Körper hat. Mit ihrer | |
Freundin nimmt sie nicht den Weg nach rechts zu den Sammelumkleiden, wo | |
sich oft Schülerinnen umziehen – sie biegt nach links ab, zu den | |
Einzelkabinen. Wo man, wenn das Schloss einrastet, einen Spiegel sieht. Und | |
darin: sich. | |
So geht das nicht! | |
Das hier ist der Frauenbereich! | |
Die Erzieherin einer Kita-Gruppe kommt auf A. zu. Empört sich. Junger | |
Mann!, soll sie gesagt haben. Und dass sie Angst um ihre Kinder hätte, wenn | |
Männer hier seien: So ist es in einem Blogeintrag nachzulesen, den A.s | |
Freundin eine Woche später verfasst. Und, etwas später noch: in einem | |
offenen Brief an die Leitung des Stadtbads. A. selbst wird über den Tag | |
nicht reden. Nicht in der Öffentlichkeit, nicht für diesen Text. | |
Junger Mann. | |
A. sei ruhig geblieben, steht in dem Blogeintrag. Sie habe der Erzieherin | |
erklärt, dass sie eine Trans*person sei, eine Frau – das sei ihre | |
Selbstidentifikation, deshalb ziehe sie sich hier um. Ihre Freundin | |
schreitet ein, es wird laut. Schließlich kommt das Badepersonal, darunter | |
zwei Männer. A. und ihre Freundin werden aus dem Frauenbereich geführt und | |
befragt. Wie ich Sie jetzt sehe, sind Sie ein Mann, soll zu A. gesagt | |
worden sein. Dass sie eine Störung des öffentlichen Badebetriebs sei. Dass | |
das woanders politisch geregelt werden müsse. | |
Eine halbstündige Diskussion, in der Verletzungen so leichtfertig | |
formuliert werden, dass man denken könnte, einige kämen einfach nicht mehr | |
nach – bei all den Veränderungen und Forderungen, freiwillig und | |
unfreiwillig Zugezogenen, all den Geschlechtern und Geschlechtslosen. Hinzu | |
kommt: A. ist schwarz. | |
A. soll die Badleitung auf das Gleichbehandlungsgesetz hingewiesen haben; | |
darauf, dass sie gerade diskriminiert werde. Die Badleitung soll | |
geantwortet haben, im Stadtbad Neukölln herrschten andere Gesetze. | |
Andere als im Gesetzbuch? | |
Was ist eigentlich los? | |
Montagmittag, Frauentag. In der großen Schwimmhalle stehen Verkehrshütchen | |
auf den Startblöcken, das heißt „Springen verboten“ – in allen Sprachen. | |
Wie ein Kirchenschiff ist die Halle angelegt: Säulen tragen das runde Dach, | |
Lichterketten beleuchten die Balustrade, und dort, wo Jesus über dem Altar | |
hängen könnte, zieren Mosaike den Verputz. | |
Eine Frau trägt ihr Bikinitop so knapp, dass die Körbchen kaum Brust | |
verdecken, eine andere ihre Waden behaart, niemand guckt. „Annneeee!“, ruft | |
ein Mädchen, „Mama“ auf Türkisch. Sie zieht sich an der Leiter aus dem | |
Becken, hüpft vom Rand wieder rein. Wassertiefe 0,90 Meter. Noch mal und | |
noch mal, dann laufen zwei Bademeisterinnen auf sie zu – eine hebt den | |
Zeigefinger. Zu zweit stehen sie schließlich vor dem Nichtschwimmerbereich, | |
in dem Musliminnen baden; die meisten lassen nur Gesicht, Hände und Füße | |
unverhüllt. Manche tragen langärmelige Oberteile. Hosen, Röcke, Kopftücher. | |
Andere Burkinis: Kunstfaseranzüge in Lila und Grün, die aussehen wie | |
Leggins mit einem Kleid darüber. Ein bisschen wie Taucheranzüge mit Tutus. | |
Für welche Zeitung man schreibt, fragt die Bademeisterin im weißen T-Shirt, | |
auf dem SERVICE steht. „Die taz ist ja nicht gerade wertfrei.“ Sie nimmt | |
ihre Kollegin zur Seite, Halbdrehung, Tuscheln, Halbdrehung, dann kommen | |
sie wieder. Das gäbe einen Riesenärger, wenn sie mit Journalisten reden | |
würden, sagen sie. Man hätte sie nicht ansprechen sollen, sagen sie. | |
Erzählen, was im Stadtbad so los ist?, sagen sie. Das geht auf keinen Fall. | |
Schauen Sie sich diese – Entschuldigung – diese Frauen an: Wie finden Sie | |
das, dass die hier schwimmen? Komplett angezogen? | |
Meine Oma ist auch katholisch und kann im Badeanzug ins Schwimmbad. | |
Das Problem ist, dass das kein Frauenschwimmen mehr ist, sondern | |
Musliminnenschwimmen. Es gibt keinen Integrationswillen – also müssen | |
Musliminnen Burkini tragen dürfen. Also müssen sie vor Männerblicken | |
geschützt werden. Also muss weibliches Personal her. | |
Ein Mann ging in die Frauenumkleide: Er hatte keine Brüste. Man konnte ihm | |
nicht ansehen, dass er sich als Frau fühlt; keine Umoperation, nichts. Ihm | |
wurde angeboten, sich auf der Behindertentoilette umzuziehen, da ist Platz. | |
Man will ja tolerant sein. Aber er hat darauf bestanden, sich in der | |
Frauenumkleide umzuziehen. | |
In der kleinen Halle auf der anderen Seite des Stadtbads geht gerade der | |
Aquafitnesskurs zu Ende. Ältere Damen in bunten Badeanzügen sitzen auf | |
Schwimmnudeln; prustend, die Köpfe errötet, halten sie Blickkontakt zur | |
Trainerin. „Und: andere Seite!“ – „Und: noch einmal!“ Ein Eindruck wi… | |
Gemälde: fünf Grazien im Nass, die das Wasser von sich schieben wie | |
Badeschaum. Es läuft Elvis. | |
Du wolltest doch nett sein zu mir, Angelika. – Das müssen wir erst noch | |
üben, Marion. | |
Dienstagmorgen, große Halle, draußen noch kein Licht. Wenn es stimmt, was | |
manche sagen: Dass im Schwimmbad jede Gruppe ihre Zeit hat, dann ist 6.30 | |
Uhr eine weiße, sehr deutsche Zeit. Für die, die die Mehrheit unserer | |
Gesellschaft ausmachen, für die Berufstätigen und die Rentner. Eine Zeit, | |
in der nicht abgehangen wird, keiner auf den Steinbänken lungert, die von | |
unten wärmen. Es ist die Schwimmbrillenzeit: Die Halle gehört den Profis, | |
die den Kopf unter die Oberfläche nehmen. | |
## Der Geruch ist seit der Kindheit gleich | |
Und um 6.30 Uhr beginnt die Nostalgiezeit, die aber nicht getaktet werden | |
muss, weil Nostalgie kommt, wenn sie kommt: Bei Dragica ist das früh. Sie | |
schläft nicht lange. Ihre Frau schläft lange, also überbrückt sie die | |
Stunden im Stadtbad, bis man wieder gemeinsam wach sein kann. Dragica, 65, | |
aus Exjugoslawien, lesbisch und verpartnert, in den Siebzigern nach Berlin | |
gezogen. Sie sitzt auf den Treppenstufen, halb im Wasser. Erzählt, wie es | |
unter Tito geheißen habe, jeder habe Recht auf Arbeit, der Vater deshalb | |
zur Mutter gesagt hat: Du gehst arbeiten. | |
Trotz der drei Kinder, einem Haushalt ohne Waschmaschine. Wie sie selbst | |
nach der Scheidung zur Oma kam, die sie einmal auf Maiskörnern knien ließ, | |
zur Strafe. Und vielleicht hat es damit zu tun, dass die Minuten im | |
Schwimmbad anders zu vergehen scheinen – dass die Leute, die älteren, dort | |
Lebensläufe durchziehen wie die Profis unterdessen ihre Bahnen. Am | |
Schwimmbad haften Erinnerungen, die als unverrückbar gelten. Der Geruch ist | |
seit der Kindheit gleich. Das Chlor ist immer da. | |
Burkinis waren nicht immer da. Musliminnen beim Frauenschwimmen, „ganz | |
angezogen.“ Dragica sagt, sie wolle nichts vermischen, wirklich, sie bemühe | |
sich – aber man wisse ja, was in Paris los war, und nahgerückter | |
Terrorismus mache ihr Angst. „Mein Familienname kommt bitte nicht in diesen | |
Artikel.“ Es mache ihr Angst, wenn sie „jemanden“ mit Burka in der U-Bahn | |
sieht. „Einfach, weil ich den Anblick nicht gewohnt bin. Was verstecken | |
die?“ | |
„Sehen Sie mal, da oben“, sagt später Lothar Leopold, am Nachmittag, wenn | |
das Schwimmbad für die Familien da ist und die große Halle endlich | |
geöffnet. In der kleinen war allmählich ein Sammelbecken entstanden, alle | |
zwei Meter ein Mensch. Krieg Platzangst gleich. | |
80 ist Leopold und seit nach dem Krieg einmal die Woche hier. Sein Handtuch | |
um die Schultern, zeigt er zu den Fenstern über der Balustrade. | |
Februarwetter; das trostspendende Gefühl, sich in einem subtropisch | |
beheizten Bunker aufhalten zu können. Bunker ist Leopolds Stichwort: „‘49 | |
gab’s da oben noch keine Fenster! Holz und Pappe hat man in die Rahmen | |
geklemmt, das Licht war ganz spärlich.“ Statt Geld konnte man auch | |
Presskohle an der Kasse abgeben, sagt er, „damit die die Kessel heizen | |
konnten“. Einschusslöcher gab es in den Säulen, „und der Bademeister hat | |
nicht so rumgeflegelt wie der da drüben“. | |
Eins, zwei ... drei! | |
Wie oft willst’n hier noch reinspringen? – Bis ich sterbe! Bis ich sterbe, | |
einfach. | |
Wenn eine Person in die Männerumkleide käme, die wie ein Frau aussieht, | |
sich aber als Mann fühlt, meint Leopold, dann würde er das „als Erfahrung | |
verbuchen“. Er hat ja „schon viel gesehen“. Wenn stimmt, was manche sagen: | |
dass im Schwimmbad jede Gruppe ihre Zeit hat – „warum dann nicht auch diese | |
Leute?“ | |
Trans*leute? | |
Es ist weiterhin November, als die Initiative Schwarze Menschen in | |
Deutschland einen offenen Brief an die Stadtbadleitung und die Berliner | |
Bäderbetriebe schickt, der den Vorfall in der Frauenumkleide detailliert | |
schildert: Junger Mann. Störung des öffentlichen Badebetriebs. Andere | |
Gesetze. Der Brief wird 300-mal unterzeichnet, auf weiteren Blogs | |
verbreitet, 400-, 500-mal unterzeichnet: „Entsetzt über den Umgang mit | |
einer schwarzen Trans*person.“ Entsetzt über den Umgang mit A. | |
Plötzlich ist ein Klischee – ein Kinderklischee beinahe, gehänselt werden | |
in der Umkleide – öffentlich. Ein Präzedenzfall. Dann wird er Politik. | |
Die Linke stellt eine Anfrage an den Senat: „Berliner Bäder: Eine Zumutung | |
für Trans*- und Inter*-personen?“ Die Senatsverwaltung antwortet. Beruft | |
sich auf die Vielfalt der Berliner Bevölkerung, die „die Beschäftigten | |
immer wieder vor besondere Herausforderungen“ stellt. „Nicht immer sind die | |
Beschäftigten dabei sicher im Umgang mit diesen besonderen Situationen“, | |
steht da. „Dies gilt auch für den noch nicht geläufigen Umgang mit trans- | |
und intergeschlechtlichen Menschen.“ | |
Wann wird der Umgang mit Menschen geläufig? Wenn man aufhört, zwischen | |
ihnen zu unterscheiden? | |
Man sieht sich gezwungen zu handeln, zu rechtfertigen. Bietet weiterhin | |
Seminare für das Badepersonal an, Veranstaltungen zum Thema „Aufregend, | |
bunt, vielfältig, normal – zur Bedeutung von Managing Diversity in Betrieb | |
und Verwaltung“. | |
Es ist Februar, als die Berliner Bäderbetriebe zum Gespräch mit zwei | |
queeren Vereinen laden. Zwei „weißen Vereinen“, wie ein Vertreter der | |
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland am Telefon sagt. Er hat den | |
offenen Brief initiiert – und ist zu dem Gespräch nicht eingeladen. Auch A. | |
ist nicht eingeladen. „Sehr absurd“, sagt der Aktivist. „Wenn so eine | |
„Veranstaltung stattfindet ohne die betroffene Person.“ | |
Die queeren Vereine schlagen eigene Schwimmzeiten für Trans*personen vor, | |
einen geschützten Raum. Die Bäderbetriebe sagen: Geht klar, einmal im | |
Monat, ein kleineres Schwimmbad sollte reichen. | |
Der Vertreter der Initiative sagt: Sicher, „das ist ein Entgegenkommen“. | |
Mehr aber könne es nicht sein. Denn was würde damit erreicht? Dass eine | |
Minderheit zu festgelegten Zeiten diskriminierungsfrei baden kann? Oder | |
dass sich eine Minderheit verstärkt als Minderheit sieht? Wenn jede Gruppe | |
für sich schwimmt: zerfällt eine Gesellschaft dann nicht in immer kleinere | |
Gruppen, die sich immer mehr weniger zu sagen haben – beim Versuch, sie | |
zusammenzuführen? | |
Wenn wir nicht mal alle zusammen planschen wollen: Wie sollen wir zusammen | |
leben? | |
Große Halle, Freitag. Kinder üben Kraulen. Badekappen verstecken ihr Haar, | |
Schwimmbrillen ihre Augenpartie. Wasser versteckt ihre Geschlechtsmerkmale: | |
Wer Junge ist, könnte Mädchen sein, und andersrum. | |
Ich bin voll stark, Mann. Ich bin ja nicht dumm. Ich schwör auf alles. | |
Große Halle, Mittwoch. Ein kleines Mädchen stellt sich unter einen der zwei | |
steinernen Seelöwen, aus deren Mäuler Fontänen sprudeln. Es ruft: „Ich bin | |
Araber!“ | |
Kleine Halle, Mittwoch. Muskeln, Bärte, Solariumteint. Um 20 Uhr beginnt | |
die FKK-Zeit: Ab dann, heißt es, seien nur Schwule im Becken. Jetzt ist | |
hier Nacktschwimmen. | |
Die Schwulen halt. – Na, wenn man’s mag. | |
Blicke ins Wasser. Blicke aus dem Wasser. Erst wird geschwommen, dann wird | |
geplaudert, aus Gemurmel wird Gelächter. Bald trifft man sich an der | |
Leiter. | |
Ab und zu treten Frauen durch die Tür, und jedes Mal kann man die Sekunden | |
zählen, bis sie anhalten, sich umsehen – verwirrt, verirrt – und abrupt | |
wieder umdrehen. Frauen, von denen es in Deutschland mehr gibt als Männer, | |
sind hier für den Moment eine Minderheit. | |
Große Halle, Freitag. „Können Sie mir sagen, wie ich mich in der Sauna zu | |
verhalten habe?“, fragt Tan Veer: 41 Jahre, ist 34 Bahnen geschwommen, 6 | |
will er noch. Kurz macht er Pause im Nichtschwimmerbereich, das Wasser | |
schwappt ihm bis zur Hüfte. Weil er aus einem „sehr warmen Land“ stammt, | |
wie Tan Veer sagt – Südindien, im Herbst nach Berlin gereist –, habe ihn | |
sein Arzt ins Stadtbad geschickt, in die Therme ein Stockwerk höher, wohin | |
er gleich will. Die Hände schlafen ihm öfter ein, seit er in Deutschland | |
ist. Klimawechsel, meint der Arzt. Gehen Sie in die Sauna! | |
In einen Raum gehen, um zu schwitzen? | |
„Wenn da zehn Frauen drin sind“, fragt Tan Veer. „Geh ich dann wieder | |
raus?“ Ob es in der Sauna Stühle gebe? Bänke für jedes Geschlecht? | |
Er nickt zu ein paar Frauen rüber, die sich am Beckenrand unterhalten, in | |
Bikinis und Badeanzügen. „Was soll ich sagen? Das eine ist unsere Kultur, | |
und das da eure.“ Frauen, die noch eine Scham haben, sagt er: In | |
Deutschland seien die rar. Alles könne gesagt werden. „Man trifft sich zum | |
Sex wie zum Kaffeetrinken.“ Die deutschen Männer kämen ihm femininer vor | |
als die Frauen. | |
Ficken, Hure. | |
Hab ich erzählt, wie ich neulich mit Jasmin über BHs geredet hab – Nee? | |
Dass sie auch mal einen anziehen soll? | |
KRÄUTERSAUNA, 80 Grad: ein Mann, weiß, mittelalt. | |
CALDARIUM, 35–40 Grad: eine Frau, weiß, älter. | |
SAUNA, 95 Grad: vier Frauen, sieben Männer, weiß, jung, mittelalt, älter. | |
Sooo, der nächste Aufguss ist Citrus. | |
Geruch von Feuer und WC-Reiniger. Schweiß läuft über Tattoos, läuft über | |
Nackenfalten, Bauchfalten, über Rötungen, Dellen, Risse. | |
## Häufigster Wunsch: Zeiten für Musliminnen im Bad | |
Hallo? Nach der Sauna duscht man sich erst ab! | |
FRESHDUSCHE. | |
REGENDUSCHE. | |
Guck mal, meine Falten. Ich sag ja: Mein Gesicht ist die Deutschlandkarte. | |
Transschwimmen. Interschwimmen. Wenn der Pressesprecher der Berliner | |
Bäderbetriebe bei seinen Kollegen außerhalb der Hauptstadt diese Begriffe | |
fallen lässt, kann er ihnen oft ansehen, dass sie nicht verstehen, von | |
welchen Forderungen er spricht. „Das ist einmalig in der Republik“, sagt | |
Matthias Oloew am Handy, eben hat er Besucher durch ein Bad in Berlin-Mitte | |
geführt. Die Leiterin der Betriebe will sich nicht äußern – und zu A. darf | |
auch Oloew nichts sagen. Es wurde Stillschweigen mit ihr vereinbart: „Die | |
Trans*person hat sich für einen anderen Weg entschieden.“ Punkt. | |
Oloew findet: Keine getrennten Schwimmzeiten zu brauchen, sei das Ziel. | |
Bereits am Frauenschwimmen zeige sich aber, wie weit entfernt ein solches | |
Ziel sei. Der eigene Tag sei nötig, einerseits, „weil sich Frauen freier | |
fühlen, wenn sie nicht von dickbäuchigen Männern am Rand beobachtet | |
werden“. Und trotzdem, andererseits, „ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert�… | |
Bis zur Weimarer Republik wurde geschlechtergetrennt gebadet. Im Stadtbad | |
Neukölln, das 1914 eröffnet wurde, war die kleine Halle die Damenhalle. Und | |
die große die für die Männer. | |
Die Forderung, die am häufigsten bei den Berliner Bäderbetrieben eingeht, | |
ist die nach Schwimmzeiten nur für Musliminnen. Und da, sagt Oloew, hört es | |
auf. „Weil wir sagen: Wir betreiben Volksbäder. Wir möchten uns nicht in | |
die Rolle begeben, dass unser Kassenpersonal die Religionszugehörigkeit | |
unserer Badegäste prüft.“ | |
Yalla! | |
Große Halle, Sonntag. Spaßbadzeit, Anarchieschwimmen. Reifen werden | |
geworfen, Reifen treiben verloren. Wellen werden mit Schwimmnudeln | |
gepeitscht. Wenn dem Stadtbad dienstagmorgens ein Hauch von Weltflucht | |
anhaftet, durchzieht es jetzt eine Spur von Gewalt. | |
Du Hure, hör auf. Hör auf. | |
Der Geruch von Adrenalin und Lust, Schweiß, Schimmel, Pärchen, Parfüm – und | |
mittendrin: eine Frau, Cahide Erdoğan, die ihren Sohn, durch das | |
Nichtschwimmerbecken trägt. 12 oder 13 ist er und Autist. „Guck, du kannst | |
es doch“, sagt Gul Sağkol, Erdoğans Freundin, wenn er kurz alleine driftet. | |
Sie fassen ihm ins Haar, küssen ihn auf die Schulter. „Ein guter Junge.“ | |
„In den Neunzigern sind wir aus der Sonnenallee weggezogen. Zu viele | |
Araber.“ | |
Nicht rennen! | |
Dir geht’s wohl zu gut. | |
„Wir sind Aleviten, wir sind tolerant. Keine Moschee, nix. Beten können wir | |
zu Hause, Gott ist überall.“ Gul Sağkol, 41 Jahre, trägt einen hellgrünen | |
Bikini, dazu hellgrünen Lidstrich. Die, die mit Kopftuch ins Stadtbad | |
kämen, seien Sunnitinnen, sagt sie, und Cahide Erdoğan sagt, dass sie sich | |
dauernd mit ihren sunnitischen Nachbarinnen über Burkinis streite. „Die | |
Frauen müssen den Mund aufmachen!“ Sie nimmt ihren Sohn auf die Hände, | |
lässt ihn ein Stück über die Trennlinie zu den Schwimmern gleiten. Gul | |
Sağkol sucht Halt an den Kacheln, im Tiefen hat sie Angst. | |
Na spring schon, spring. | |
Jasmin, komm mal bei mir auf‘n Boden. | |
Es ist weiterhin Februar, als Rechtskonservative die Debatte um A. für sich | |
entdecken. „Wir werden wohl nicht lange warten müssen, bis dieser | |
Transenvirus auch Bäder weiterer Städte befällt“, schreibt Peter Helmes auf | |
seinem Blog – Bundesgeschäftsführer der Jungen Union war er; 1980, während | |
der Bundestagswahlen, im Wahlkampfstab von Franz Josef Strauß. „Der | |
sexuelle Irrwahn in Deutschland kennt offenbar keine Grenzen.“ | |
Und bestimmt gehören solche Kommentare zu den Gründen, aus denen A. | |
schweigt, über ihren Tag im Stadtbad nicht öffentlich redet. Wie auch ihre | |
Unterstützer im Laufe dieser Recherche kaum noch reden. Prozess? Einigung? | |
Künftige Schritte sollen nicht erwähnt werden, heißt es. Zu A.s Schutz. | |
Ich hätt gern auch ein Stückchen Leben, weißte, wie ich mein? | |
Große Halle, Samstag. Die, die bisher unsichtbar waren, stehen plötzlich da | |
– links, vor dem Eingang zum Männerbereich: acht Flüchtlinge. Handtücher, | |
Duschgel in den Händen. Einer von ihnen steht etwas abseits, vor ihm steht | |
ein Bademeister. Er gestikuliert, zeigt auf die Badehose des Flüchtlings, | |
immer wieder: knielang, dunkelblau. Baumwollstoff. „This is not a bathing | |
suit!“ | |
„This!“ – der Bademeister hält die Autorin im Vorbeigehen am Bikiniträg… | |
fest – „this is a bathing suit!“ Er zieht am Träger, das Englisch geht i… | |
aus. Der Mann, der Flüchtling, läuft zurück in die Umkleidekabine, kommt | |
wieder und hebt eine Unterhose hoch. Viel knapper als die, die er trägt. | |
Grau. Baumwollstoff. „No!“ | |
## „Und dann wird uns vorgeworfen, wir sind nazihaft“ | |
No! No! No! | |
Ein zweiter Bademeister tritt auf. Groß, gestählt, die Brust zeichnet sich | |
unter dem Tanktop ab. Der spricht kein Englisch. – Vergiss es, die sprechen | |
alle kein Englisch, kein Französisch, kein Deutsch. Ich hab’s schon | |
dreißigmal gesagt, die verstehen‘s immer noch nicht. | |
Der Mann, der Flüchtling, schaut zum ersten Bademeister, schaut zum zweiten | |
Bademeister, schaut zur Autorin, die Situation ist zum Heulen. Bevor er | |
geht, sagt er das eine Wort, das er kennt: „Entschuldigung.“ | |
Die Flüchtlinge sind heute nicht bloß zum Duschen gekommen, aus dem | |
C&A-Gebäude um die Ecke. 169 sollen dort gerade leben, ausschließlich | |
Männer. | |
Sie wollten schwimmen. | |
Ob sie Eintritt zahlen mussten dafür? | |
Keine Angst, die haben genug Geld. Der kriegt heute ausnahmsweise eine | |
Kulanzkarte von mir, das heißt, er darf noch mal rein, ohne noch mal extra | |
zu zahlen. Wir sind nicht angehalten, das zu machen. Wir müssen das nicht. | |
Aber bei dem hier würde ich heute mal denken: Er hat‘s nicht gewusst. Viele | |
wissen‘s nicht. Die kommen hier her, in Baumwollunterhosen. Einer neulich: | |
mit Bremsspuren. Das ist dermaßen unhygienisch, dermaßen! Ich weiß, das ist | |
hart – viele versuchen sich auch zu benehmen und sind total nett, einen | |
kenne ich, der hat schon ein bisschen Deutsch gelernt – aber wir haben eben | |
Regeln. Dass hier einer in Baumwollhose badet, das gibt es vielleicht bei | |
anderen. Bei mir gibt es das nicht. | |
Ich sag Ihnen was: Kein Einziger von denen da drin ist Syrer. Ich weiß das | |
von ihrem Betreuer, der sagt, die hätten zwar alle syrische Pässe, aber | |
keiner spricht einen syrischen Dialekt. Die kommen aus dem Iran oder dem | |
Irak. Und ich weiß ja: Die kommen aus dem Krieg. Da ist man vielleicht auch | |
einfach mal froh, wenn man duschen kann. Da haben ja Deutsche teilweise | |
schlechtere Duschen als wir hier im Bad. | |
Fragen Sie mal unser weibliches Badepersonal nach dem Frauenschwimmen! Wie | |
die die Duschen hinterlassen! Wir hätten das letztes Mal ja gern | |
fotografiert und die Fotos ins Internet gestellt. Aber das dürfen wir ja | |
nicht. Obwohl das eben – Realismus ist, sag ich mal. | |
Und dann wird uns vorgeworfen, wir sind nazihaft! Wir seien gegen | |
Ausländer. Wenn neunzig Prozent unserer Besucher Menschen mit | |
Migrationshintergrund sind, dann sind das eben die Menschen, mit denen wir | |
zu tun haben. Die Türken übrigens – ich war selbst schon in der Türkei, | |
Istanbul, Ankara, alles, tolles Land – die benehmen sich besser als die | |
Deutschen. In der türkischen Kultur geht es nämlich um Anstand. In der | |
arabischen geht es um: gar nichts. | |
Drüben, in der kleinen Halle, fängt das Romantikschwimmen an. 19 Uhr: Ein | |
junger Mann hält seine Freundin auf den Armen. Entspannungsmusik läuft, die | |
Bewegungen werden sanft. Weiße Kerzen werden angezündet, eine nach der | |
anderen. Jede auf einem Silbertablett. Dann geht das Licht aus. | |
12 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
## TAGS | |
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Nächste Woche wird darüber mit den Bäderbetrieben gesprochen. | |
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Wer nur schwimmen will, ist hier verkehrt: Unter der Säulenarchitektur wird | |
der Müßiggang gepflegt. Zum 100. Geburtstag gibt’s Musik am Beckenrand. |