# taz.de -- Selbstbestimmtes Radio von Geflüchteten: Stimme und Ohr zugleich | |
> Viele Medien haben Geflüchtete als Zielgruppe entdeckt. Die meisten | |
> berichten über sie. Das Refugee Radio Network macht es anders. | |
Bild: Lässt sich nicht reinreden: Larry Macaulay vom Refugee Radio Network. | |
Ob er selbst auf der Liste steht, wollte er nicht herausfinden müssen. Also | |
packte Larry Macaulay im Januar 2010 seine Sachen und floh aus Nigeria. Auf | |
jene Liste hatten die militanten Islamisten Menschen gesetzt, die sich zu | |
viel getraut hatten. | |
Nach den Kommunalwahlen im Jahr 2008 kam es in Nigeria zu | |
Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen. Macaulay gründet eine | |
„Bürgeraufsicht“, die Digitalkameras an die Bevölkerung verteilte, um die | |
Morde zu dokumentieren, die bald in die Hunderte gingen. | |
Wer so etwas macht, kommt auf die Liste der Extremisten. „Sie haben die | |
Namen von Leuten aufgeschrieben, die sie dann im Wirrwarr des nächsten | |
Konflikts systematisch abgearbeitet haben“, sagt Macaulay. Deswegen ging er | |
nach Libyen. | |
Heute lebt er in Hamburg und ist einer der umtriebigsten | |
Flüchtlingsaktivisten der Stadt. 2014 gründete er zusammen mit zwei | |
ebenfalls aus Nigeria Geflüchteten, Sammy Ojay und Asuquo Udo, die | |
Online-Radioplattform Refugee Radio Network, kurz RRN. Die „Refugee Voices | |
Show“ war das erste einstündige Format, das sowohl auf der eigenen Website | |
als auch auf der Frequenz des Freien Sender Kombinats in Hamburg, 93,0, zu | |
hören war. | |
## „Eine Stimme geben“ | |
Larry Macaulay moderierte mit ruhiger Stimme und dem Redefluss eines | |
professionellen Radiomoderators ein informatives und unterhaltsames | |
Programm aus deutschen Ansagen, englischen Interviews und Gema-freier | |
Musik, das die Radiomacher mit einfachsten Mitteln erstellt hatten. | |
Sie wollten Geflüchteten „eine Stimme geben“. Nicht mehr nur über sie red… | |
lassen, sondern mit ihnen. „Anfangs wollte uns niemand unterstützen“, | |
erinnert sich Macaulay. „Ein selbstbestimmtes Flüchtlingsprojekt war nicht | |
sonderlich populär.“ | |
Dabei haben mittlerweile viele Medien Flüchtlinge als Zielgruppe entdeckt: | |
Bei N-TV läuft die Nachrichtensendung „Merhaba“, Funkhaus Europa sendet in | |
Kooperation mit WDR, RBB und Radio Bremen das „Refugee Radio“ und auch die | |
Deutsche Welle hat ein Onlineangebot nur für Geflüchtete. | |
Aber fast alle der bisherigen Projekte, die sich an Flüchtlinge und | |
Migranten richten, sind genau das: Projekte. Macaulay will mit seinem | |
Netzwerk mehr sein. Seine Vergangenheit als Geschäftsmann und Aktivist und | |
seine universitäre Ausbildung als Bauzeichner und Betriebswirt gaben dem | |
Nigerianer die Mittel zur Hand. | |
## Im früheren Leben politisch | |
Schon seit seiner Studienzeit war der heute 41-Jährige in seiner Heimat | |
politisch aktiv. Er war Teil der panafrikanischen Jugendbewegung, bereiste | |
viele afrikanische Staaten. In Nigeria arbeitete Macaulay nebenberuflich | |
als Rechercheur und Journalist. | |
Er schrieb Kolumnen für eine lokale Zeitung in seiner Heimatstadt Jos, im | |
Zentrum Nigerias. Nach seiner Flucht Richtung Libyen gründete er eine | |
Baufirma und lebte „ein produktives Leben“, wie er es nennt. | |
Als im März 2011 US-amerikanische und britische Marschflugkörper an der | |
libysche Küste einschlugen, musste Larry fliehen. „Viele Mitarbeiter saßen | |
fest, hatten kein Geld, unsere Kraftfahrzeuge hatten sie mitgenommen und | |
wir mussten sehen, was zu retten war.“ | |
Macaulay wollte nach Tunesien oder nach Dubai, beides missglückte. In einer | |
Nacht im Mai bestieg er mit 270 anderen ein Fischerboot. Auf Lampedusa | |
betrat er als Flüchtling erstmals europäischen Boden. | |
## „Als Flüchtlinge abgestempelt“ | |
Er fand Freunde und Unterstützer unter den Bewohnern und Aktivisten, die | |
seit Jahren an den Brennpunkten der südlichen Fluchtrouten an der Spitze | |
Europas aktiv waren. Mit ihnen steht er bis heute in engem Kontakt, sie | |
sind seine wertvollsten Quellen. Zwei Jahre blieb er im Süden Italiens, | |
dann hörte er von den Flüchtlingsaktivisten „Lampedusa in Hamburg“. | |
Er wollte wissen, wie sich diese Gruppe selbst organisierte. „Wir werden | |
oft als Flüchtlinge abgestempelt, politisiert und zum Zweck moralischer | |
Selbsterhöhung eingesetzt, anstatt dass man unsere individuellen | |
Fähigkeiten fördert und nutzt“, sagt Macaulay. Er wollte dem etwas | |
entgegensetzen. | |
Macaulay zog nach Hamburg und entwickelte ein Konzept für ein Online-Radio, | |
das Flüchtlingen weltweit sowohl Stimme als auch Ohr sein sollte. „Was wir | |
hatten, war das Internet und die sozialen Medien“, sagt Macaulay, „also | |
nutzten wir die, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen.“ | |
Selbstbestimmung bedeutete für Macaulay auch, die Hilfe von Unterstützern | |
anzunehmen, beispielsweise bei Übersetzungen oder durch technische | |
Unterstützung. Jedoch sollte es keine Einmischung in den strukturellen | |
Aufbau des Radios geben. | |
## Selbstgebautes Haus | |
„Wenn du dein Haus nicht selbst baust, weißt du nicht, auf welchem | |
Fundament es steht“, sagt er. „Niemand kann unsere Geschichte für uns | |
erzählen.“ Also sammelte und schnitt er Material, setzte Themenschwerpunkte | |
fest und suchte sich mögliche Partner. | |
Die ersten Förderer fanden die Radiobetreiber in der Stiftung „:do“, die | |
Projekte von MigrantInnen fördert. Es folgten die evangelische Nordkirche | |
und der Softwareentwickler Easirun. Die kleinen Spendenbeträge gingen aus | |
rechtlichen Gründen an deutsche Unterstützer, die sie in ein Mikrofon, | |
einen Audiorekorder, ein Mischpult und einen Computer investierten. | |
Promomaterial wie Flyer und Visitenkarten entwarf Larry selbst. Auch die | |
Website setzte er selbst auf, befasste sich mit Servern, Templates, | |
Streamingdiensten und Podcasts. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wurde | |
auf Refugee Radio Network aufmerksam und vermittelte die Gruppe nach einem | |
Treffen an den Hamburger Lokalsender Freies Sender Kombinat, der sich | |
bereiterklärte, RRN ins Programm aufzunehmen. | |
Zweimal im Monat moderiert Macaulay nun im Studio des Senders eine | |
Live-Ausgabe der „Refugee Voices Show“. Knapp 40.000 Zuhörer hat er dabei, | |
schätzt er. Zusammen mit zwei nigerianischen Kolleginnen entwickelte er | |
neue Formate: Interviewreihen, eine Sendung für weibliche Geflüchtete, | |
Musik- und Literatursendungen. | |
## Immer mehr Sendezeit | |
Mittlerweile ist das Refugee Radio Network zu einem multinationalen Team | |
aus freiwilligen Mitarbeitern syrischer, deutscher, nigerianischer und | |
italienischer Abstammung angewachsen. Zuletzt produzierte Macaulay mit | |
einer Gruppe Afghanen die „Afghan Voices Show“. | |
Je größer das Programm des Netzwerks wurde, desto mehr Sender räumten ihm | |
Platz ein. Mittlerweile sendet Tide FM in Hamburg zweimal im Monat Teile | |
des RRN-Programms, ebenso der Radiosender Alex Berlin. Hinzu kamen außerdem | |
das Berlin Community Radio, das Radio Unerhört in Marburg und das Freie | |
Radio Stuttgart. | |
„Wir wollen mit Community-Sendern zusammenarbeiten, um die lokale | |
Bevölkerung zu erreichen“, sagt er. „Wir wollen sie und uns gleichermaßen | |
in einem offenen Diskurs informieren und bilden.“ Und das gelingt: Mit der | |
Unterstützung des Internationalen Zentrums für schönere Künste Kampnagel | |
wurde nun ein Online-Talkshowformat entwickelt, das am Freitag zum ersten | |
Mal aufgezeichnet wurde. | |
21 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Janto Rößner | |
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