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# taz.de -- Schlagloch Tierrechte: Von Tieren und Flüchtlingen
> Die Tierrechtlerin als humanitäre Hilfskraft: ziemlich
> selbstverständlich. Denn der eine politische Kampf ist nicht wichtiger
> als der andere.
Bild: Es ist gar nicht schwer, eine ausgestreckte oder zupackende Hand zu riski…
Üblicherweise reflektiert die Zeitschrift tierbefreiung Visionen und
Strategien der Tierrechtsbewegung; doch das aktuelle Heft ist der
Geflüchteten-Hilfe gewidmet. In einem Beitrag berichtete eine Aktivistin,
eigentlich fühle sie sich vor allem dem Kampf für die Tierrechte
verpflichtet; aber wenn nun so viele Menschen in unmittelbarer Nähe ihr
Leben zu retten versuchen, müsse sie versuchen, etwas für diese Menschen zu
verbessern.
Damit sprach sie sicher vielen Tierrechtler*innen aus der Seele. Sie machte
keine Hierarchie auf; der eine politische Kampf ist nicht wichtiger als der
andere. Es ist eine Frage der Ressourcen, der begrenzten Zeit. Wir können
nicht alles gleichzeitig anpacken. Manchmal schwingt auch eine Motivation
mit, die ein Freund von mir einmal so beschrieben hat: „Es macht mich
wütend, wenn ich sehe, dass irgendwo nicht genug gekämpft wird.“ Darum
kämpfe er für die Tiere.
Geschätzte 1 bis 2 Prozent der Deutschen leben vegan; in den
Freiwilligenprojekten sind sie derzeit überall präsent. Vermutlich nicht so
sehr die bloßen Foodfreaks und Lifestyle-Veganer*innen; von Attila Hildmann
las ich neulich, er plädierte für eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen.
Aber die politischen Veganer*innen engagieren sich aus genau demselben
Grund für Tiere wie für Menschen.
An etlichen Stationen entlang der Route, an der Freiwillige Geflüchtete
versorgen, wird vegan versorgt oder gekocht. Die Leute von „Mastanlagen
Widerstand“, die sich sonst vor Schlachthöfen anketten, sind schon wieder
irgendwo bei Lesbos unterwegs. Und warum? Weil es derselbe Kampf ist. Wir
alle, Menschen und Tiere, sind verletzliche, bedürftige, empfindungsfähige
und eigenwillige Individuen; wir brauchen gewisse Grundbedingungen, um
unser Leben zu verwirklichen. Es ist ungerecht, wenn andere uns mutwillig
am Leben zu hindern versuchen. Und oft benötigen wir die Hilfe anderer, um
uns gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren.
## Auberginen statt Schweinehüften
Es hat mich sehr getroffen, als ich kürzlich mit einer Fleisch essenden
Freundin über diese Dinge sprach und sie – in bester Absicht, lobend –
sagte, das sei „schön, wenn sich Tierrechtler*innen jetzt auch mal für
Menschen engagierten“. Aber das tun wir selbstverständlich und ständig! Und
wann dürfen wir den Tag erleben, an dem die Menschenrechtler*innen etwas
für Tierrechte tun? Ihr braucht gar nicht direkt aktiv dafür zu werden, es
reicht, wenn Ihr aufhört, an der Supermarktkasse falsch abzustimmen. Hin
und wieder könnte man ja eine Unterschrift unter eine Petition setzen und
ansonsten einfach Auberginen statt Schweinehüften grillen. Wäre das
wirklich zu viel verlangt?
Die Überlegung, für welche Aktivitäten Menschen ihre Zeit einsetzen sollen,
berührt noch ein anderes Problem: Manche Übel sind eher akut und manche
chronisch. Wenn Geflüchtete nachts vor einer Aufnahmestelle im Freien
campieren, ist ihre Not sichtbar, nah, akut. Ganz egal, wie sich das
bürgerliche Gewissen da gern herausredet, fast jede*r Moralphilosoph*in
wird sagen: Soweit wir können, müssen wir in diesen akuten Notlagen helfen.
Genau das ist das Verrückte und Beflügelnde, was so viele von uns in den
letzten Monaten erstmals in ihrem 20- bis 60-jährigen Leben erfahren
durften: Man muss nicht nur, man kann auch helfen. Man kann ganz simple
Dinge tun, wie in Camps und auf Bahnhöfen anderen Menschen Obst und Tee und
Mützen reichen. Unser gesamtes bisheriges Leben bekamen wir Dinge
eingetrichtert wie: „Das ist nicht so einfach . . .“ oder „Wer den kleinen
Finger reicht . . .“ Und jetzt fahren Leute hin, reichen Tee und kleinen
Finger, und die Hand bleibt dran.
Doch trotz der akuten Notlagen bleiben die chronischen Übel bestehen, und
damit sind jetzt nicht allein die humanitären Katastrophen weltweit und
ihre konfliktreichen Folgen gemeint. Chronisch ist eben auch die Ausbeutung
und Tötung von weltweit 65 Milliarden und in Deutschland jährlich immerhin
800 Millionen Landwirbeltieren (Fische bleiben ungezählt). Es ist ohnehin
schwierig, öffentliches Bewusstsein für dieses Leid zu schaffen, das jeden
Tag und im Verborgenen geschieht. Im absichtlich Verborgenen, denn die
Schlachthöfe sind nicht nur wegen der Mietpreise immer weiter von den
Städten weggewandert. Ställe haben keine Glaswände, und die PR-Maschinerie
der Agrarindustrie tut ein Übriges, damit die menschliche Bevölkerung das
Unrecht gegenüber den nichtmenschlichen Tieren „vergisst“ oder „übersie…
## Stimmen zum Leid
Chronisch ist auch das Unrecht und Leid, das hinter der
Flüchtlingsproblematik steht. Ich habe mich in den letzten Monaten oft
gewundert, warum so wenig philosophische Stimmen zu diesem Thema zu hören
sind. Eine Ausnahme war Rainer Forst, der vor Weihnachten in einem
Zeit-Interview die wirtschaftliche Dominanz der westlichen Industrieländer
ansprach und sagte: „Westliche Gesellschaften müssen einen Teil ihrer
ökonomischen Vorteile abgeben und die Arbeitsbedingungen in ärmeren Ländern
radikal verändern.“
Vermutlich liegt auch darin ein Grund, warum sich Philosoph*innen zur der
Frage, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen „müssen“, so selten äußern. …
ist einfach, über die einzelne Situation zu urteilen: Ertrinkende dürfen
wir nicht zurückweisen. Aber dann müssen wir uns auch fragen, was mit den
anderen ist, die so arm oder schwach sind, dass sie es nicht mal ans Meer
schaffen. Wieso fliegen wir die nicht alle ein? Warum sind sie arm oder
schwach? Woher stammen die Waffen, vor denen Menschen weltweit fliehen, und
warum hungern Millionen Menschen, während bei uns die Brotregale selbst in
den schlechtesten Erntejahren bestens gefüllt sind? Und nicht nur die
Brotregale sind es, sondern auch die Tröge der hier eingepferchten Tiere.
Ja, es ist ein Kampf. Ich will nicht behaupten, dass überall Glück und
Frieden herrschen, sobald wir alle Veganer*innen werden. Aber schon George
Sand hoffte: „Alles wird möglich auf unserem Planeten von dem Augenblick
an, wo wir die blutigen Fleischmahle und den Krieg überwinden.“
30 Jan 2016
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
Flüchtlingshilfe
Veganismus
Schlagloch
Tierrechte
Tierliebe
Tiere
Flüchtlinge
Schafe
Massentierhaltung
Landwirtschaft
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