# taz.de -- Artenschutz und Agrarindustrie: Die Insekten sind weg | |
> Die intensive Landwirtschaft bedroht Heuschrecken und Schmetterlinge. | |
> Heute gibt es 80 Prozent weniger der Tiere als noch vor 20 Jahren. | |
Bild: Hain-Schwebfliege auf einer Wegwartenblüte. | |
BERLIN taz | Die blitzblanken Windschutzscheiben sind das Alarmzeichen. Wer | |
noch in den 80er Jahren auf der Autobahn durchs Land fuhr, der musste alle | |
paar hundert Kilometer eine klebrige Schicht toter Insekten abschrubben. | |
Heute bleiben Scheiben und Scheinwerfer sauber: Es ist nichts mehr da, was | |
festkleben könnte. | |
„Die Situation ist hochgradig dramatisch und beängstigend“, sagt Josef | |
Tumbrinck, Vorsitzender der Umweltorganisation Nabu Nordrhein-Westfalen. Er | |
beobachtet den Schwund der Insekten aus der Landschaft seit Jahren und | |
berichtet am Mittwoch als einer von vier Experten dem Umweltausschuss des | |
Bundestages darüber. Bislang sei das Artensterben unter den Insekten ein | |
„unterbelichtetes Riesenthema“, sagt Tumbrinck, das es kaum aus der Ecke | |
der Hobby-Entomologen heraus schaffe. | |
## Am Ende steht das Alkoholfläschchen | |
Diese ehrenamtlichen Insektenkundler sind es auch, die am Niederrhein seit | |
Ende der 80er Jahre Fallen aufstellen und darin Schwebfliegen, Käfer, | |
Heuschrecken und Schmetterlinge fangen. Die Tiere fliegen in die Fallen, | |
krabbeln in ihnen nach oben und landen schließlich in einem Fläschchen mit | |
Alkohol. | |
Einmal die Woche werden die Flaschen geleert, gereinigt und gewogen: 1995 | |
sammelten die Naturschützer noch 1,6 Kilogramm Insekten pro Jahr aus ihren | |
Fallen. „Heute freuen wir uns über 300 Gramm pro Jahr“, sagt Tumbrinck, | |
„das ist ein Rückgang von über 80 Prozent“. | |
Vor allem die großen Insekten seien betroffen, hat Thomas Schmitt vom | |
Deutschen Entomologischen Institut Müncheberg beobachtet, der | |
Eichenwaldbock, der echte Hirschkäfer, der Balkenschröter, der | |
Feldgrashüpfer: diese großen Käfer und Heuschrecken fänden sich immer | |
weniger. Warum? „Das wissen wir nicht“, sagt Schmitt, „wir wissen ja | |
überhaupt so wenig.“ | |
Der Artenschutz konzentriert sich bislang vor allem auf Vögel und | |
Säugetiere, das Rebhuhn, die Grauammer, den Feldhamster; auch die | |
Wissenschaft widmet sich vor allem diesen Arten. Insekten würden | |
„stiefmütterlich behandelt“, klagt Schmitt. | |
## Sterben vor der Entdeckung | |
Allerdings sei es auch undankbar, sich mit dem Krabbelgetier zu befassen, | |
viele Fliegen, Mücken oder Käfer sind nur schwer voneinander zu | |
unterscheiden. Die Hälfte aller Arten seien überhaupt noch nicht | |
beschrieben, schätzt Schmitt, „die sterben uns weg, bevor wir sie überhaupt | |
kennen lernen“. 328 Vogelarten leben in Deutschland, sagt der Agrarökologe | |
Teja Tscharntke von der Universität Göttingen, und 104 Säugetierarten – | |
aber schätzungsweise rund 33.000 Insektenarten. | |
„Wenn wir über Artenvielfalt sprechen“, sagt Tscharntke, „dann sprechen … | |
über Insekten.“ Deren Rolle als Bestäuber, etwa im Obstanbau, hat sich | |
herumgesprochen. Etwa ein Drittel der globalen Nahrungsmittelproduktion | |
werde von der Bestäubung durch Bienen beeinflusst, so Tscharntke. | |
## Weniger Räuber bedeutet mehr Ackergifte | |
Doch Schwebfliege und Co haben noch andere wichtige Aufgaben: Sie dienen | |
anderen Tieren, etwa Vögeln, als Nahrung. Ohne Fluginsekten keine | |
Schwalben. Außerdem sind Insekten „biologische Schädlingsbekämpfer“: Auf | |
einem Hektar Weizen tummeln sich hunderttausend räuberische Insekten und | |
Spinnen, rechnet Tscharntke vor; geht es ihnen an den Kragen, vermehren | |
sich die Pflanzenfresser. Werden die Räuber experimentell ausgeschlossen, | |
zählten Biologen dreimal mehr Blattläuse.Das setzt ein unheilvolles | |
Wettrüsten in Gang: Die Landwirte setzen mehr Ackergifte ein, denen mehr | |
Insekten zum Opfer fallen – in der Folge benötigen die Bauern noch mehr | |
Gift. Vor allem eine bestimmte Gruppe von Ackergiften ist ins Visier von | |
Artenschützern gelangt: Die Neonicotinoide, deren Einsatz in der EU seit | |
dem vergangenen Jahr weitgehend verboten ist. | |
Schon lange stehen sie im Verdacht, Bienen zu schädigen, vermutlich haben | |
sie aber auch die meisten anderen Fluginsekten getötet oder an der | |
Vermehrung gehindert. Derzeit überprüft die zuständige Europäische Behörde | |
für Lebensmittelsicherheit Efsa die Entscheidung, die entsprechenden | |
Spritzmittel in nur wenigen Anwendungen zuzulassen. | |
Allerdings sind Ackergifte nicht alleine schuld am Sterben der | |
Krabbeltiere. „Einen großen Einfluss hat die Vielfalt in der Landschaft, | |
Blühstreifen, magere Wiesen, Feuchtgebiete“, sagt Tscharntke, „Insekten | |
brauchen abwechslungsreiche Lebensräume. Derzeit stehen nur 5 Prozent der | |
landwirtschaftlichen Flächen als „ökologische Vorrangflächen“ für den | |
Artenschutz zur Verfügung – viel zu wenig, meinen die Experten. | |
## Stickstoff tötet | |
Eine unheilvolle Rolle spielt zudem die Überdüngung. Stickstoff tötet: Zu | |
große Mengen lassen die Pflanzenwelt verarmen. Vor allem schnellwüchsige | |
Gräser profitieren, Kräuter verschwinden – und mit ihnen die Tiere, die | |
sich von ihnen ernähren. Auch hier schließt sich ein Kreis: | |
Stickstoffreiche Pflanzen ziehen Blattläuse an, die von den Bauern mit mehr | |
Ackergiften bekämpft würden. | |
Was tun? Die Lösung liegt im Artenschutz, in der Landwirtschaft. Weniger | |
Ackergifte, weniger Dünger, eine abwechslungsreichere Landschaft, mehr | |
Brachen und Grünland; dann könnten sich die Insektenbestände auch wieder | |
erholen, sagt Tumbrinck. Es werde spannend sein, ob sich allein durch das | |
Verbot von Neonicotinoiden wieder mehr Heuschrecken und Schmetterlinge in | |
den Insektenfallen fänden. | |
13 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
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