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# taz.de -- Warten als Tugend: Worauf warten wir?
> Schlangestehen ist langweilig, nervig, ungerecht. Wir warten viel weniger
> als früher, zum Glück. Doch dabei ist etwas verloren gegangen.
Bild: Wir stehen viel weniger in der Schlange als früher. Warum sind wir trotz…
Wer einen Schauplatz großer Gefühle sucht, sollte sich nach einer
Warteschlange umgucken. Dort wird er nicht Liebe, Glaube oder Hoffnung
vorfinden, aber latente Gereiztheit und Anspannung kurz vor der Explosion:
Hier scheint es um etwas zu gehen. Das Maß des Unmuts steht in keinerlei
Verhältnis zur Dauer der Wartezeit. Dass uns diese fünfminütige
Unterbrechung unseres effizient durchgeplanten Tages derartig aus der
Fassung bringt, wirft kein gutes Licht auf unsere Alltagsverfassung.
Das Schauspiel sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Warten rar
geworden ist in unserer Gesellschaft. Wir warten weniger, als das etwa
unsere Großeltern getan haben – zum Glück. Warten war und ist ein Zustand,
in dem sich die Hilflosen und Ohnmächtigen wiederfinden, die sozial
Schwachen.
Wobei es, und das ist wichtig, nicht nur um die Warterei in der
Postschlange ging, sondern um viel Grundsätzlicheres: Zeiten, in denen
Frauen darauf warteten, geheiratet zu werden oder die Witwentracht
abzulegen und ins soziale Leben zurückkehren zu dürfen. Im Russland der
40er Jahre war es eine notleidende Landbevölkerung, die tagelang für Brot
anstand – bis Stalin das Warten verbot. Und heute: Flüchtlinge, die auf
Aufenthaltsrecht oder Arbeitserlaubnis warten. Vielleicht schwingt eine
Ahnung all dieser Ohnmacht mit in unserer eigenen Abneigung gegen das
Warten.
Es gibt keinen Anlass, dem Warten nachzutrauern. Aber es wäre eine
verpasste Chance, nicht nachzusehen, was man mit dem Warten über Bord
geworfen hat. Vielleicht lohnt es sich ja, nachzujustieren.
## Warten ist heute eine Frage des Geldes
Heute ist Warten vor allem ein Zeitverlust derer, die sich davon nicht
freikaufen können. Der Kassenpatienten, die länger auf einen Arzttermin
warten müssen als die Privatpatienten, der Economy-Fluggäste, die eine
Viertelstunde länger in der Abfertigungsschlange stehen als die
Business-Class-Menschen. Die Nichtwartenden sind Menschen, deren Zeit
kostbarer ist als die der anderen.
Der Ratenkredit hat die Zumutung des Sich-gedulden-Müssen auch für die
Kleinverdiener reduziert. Seit den 50er Jahren ist damit derjenige, dem die
Bank nicht einmal einen solchen Kredit zugesteht, der Außenseiter in einem
Wirtschaftssystem, das den Menschen das Warten systematisch abgewöhnt hat.
Wer wartet heutzutage noch bei uns? Die Alten im Pflegeheim warten darauf,
dass man sie besucht, dass die Kinder und Enkel in ihrem durchgetakteten
Leben eine Stunde finden für eine Welt, deren Bewohner auf alles warten
müssen: dass das Essen gebracht wird, dass sich jemand erbarmt, um sie zur
Toilette zu führen, dass jemand sie aus dem Zimmer in den Aufenthaltsraum
bringt.
In den 70er Jahren haben zwei amerikanische Forscherinnen in einem
Altersheim den BewohnerInnen die Möglichkeit gegeben, den Zeitpunkt und Ort
von Besuchen zu bestimmen – eine Kontrollgruppe wartete im Unbestimmten. Es
zeigte sich, dass die BewohnerInnen, die selbstbestimmt warteten (sie
durften sich übrigens auch eigenständig um eine Pflanze kümmern), nicht nur
fröhlicher, sondern auch gesünder waren: Die Zahl der Todesfälle war halb
so groß wie in der Kontrollgruppe. In eine ähnliche Richtung gehen die
Ergebnisse einer Studie von 2012: Die meisten der befragten Menschen, die
im Gefängnis auf ihre Abschiebung warteten, waren physisch und psychisch
davon gezeichnet. Warten, das bedeutet für diese Menschen einen
existenziellen Kontrollverlust.
Es ist kein Zufall, dass in einer Gesellschaft, in der Warten zum Unzustand
geworden ist, gleiche Wartezeiten als Zeichen von Gerechtigkeit gelten. Um
so mehr in Bereichen, in denen es um Existenzielles geht: Adoption etwa
oder Organspende. Folgerichtig war das Geraune groß, als es hieß, dass bei
Exkanzler Schröder das Adoptionsverfahren ungewöhnlich schnell gelaufen sei
– ob zu Recht oder zu Unrecht. Und es ist kein Wunder, dass
Flüchtlingshilfeorganisisationen die Einbürgerung prominenter Sportler
kritisch sehen.
## Warten zu können heißt, demütig zu sein
Aber das ist nur die halbe Wahrheit über das Warten. In der statusbewussten
Mittelschicht ist die Fähigkeit, zu warten, ein Ausdruck von
Selbstdisziplin und damit eine Tugend. Ein Experiment des US-Psychologen
Walter Mischel in den 70er Jahren sorgte bei Eltern für Aufsehen: Mischel
hatte das sogenannte Marshmallow-Experiment ersonnen, bei dem Kinder die
Wahl hatten, entweder direkt einen Marshmallow zu bekommen, oder aber zwei,
wenn sie auf Mischels Rückkehr warteten – wobei sie nicht wussten, wie
lange das dauern würde. Jahre später traf der Psychologe die inzwischen
erwachsenen Probanden wieder und stellte fest, dass diejenigen, die warten
konnten, erfolgreicher im Beruf und glücklicher in ihrem Privatleben waren.
Doch bekommt man den Eindruck, dass Theorie und Praxis auseinanderklaffen.
Wer Warten als Zumutung empfindet, wird es seinen Kindern kaum beibringen
können. Und wie schlüssig ist es, in einer Gesellschaft, die ab Oktober in
Lebkuchen badet, den Kindern das freiwillige Warten nahezulegen? Die
Zeiten, in denen das Kirchenjahr mit seinem Wechsel von Fasten und Feiern,
von Erwartung und Erfüllung das Leben prägte, scheinen unendlich weit. Kein
Wunder, schließlich hat die Kirche selbst mit dem Warten aufgeräumt, wenn
sie das Abendmahl schon an die nichtkonfirmierten Kinder austeilt. Damit
vergangen ist eine Kultur der Übergänge und der Vorfreude.
Im freiwilligen Warten liegt Demut, in der Erkenntnis der eigenen
Machtlosigkeit, im Wissen, dass es Dinge gibt, die man nicht erzwingen
kann, im Vertrauen auf etwas, was nicht die eigene Potenz ist. Nichts, was
dem autonomen Individuum naheläge. Demut ist die Tugend, die den
radikalsten Abstieg bei uns genommen hat.
Ist es nicht sogar demokratisch, dass wir jetzt alle nicht mehr warten
wollen? Warum sollten wir einer Fähigkeit nachweinen, die den Mächtigen
gute Dienste geleistet hat?
## Warten ist kein Bausparvertrag
Weil es Momente gibt, in denen sie fehlt. Weil sie eines der wenigen
Bollwerke gegen den Terror des Menschenmöglichen ist. Und darin hat diese
biedere Demut inzwischen etwas erstaunlich Widerständiges.
Wer, sagen wir, auf die Rückkehr eines Geliebten, einer Geliebten wartet,
der steigt ein Stück weit aus der Gegenwart aus – ohne Garantie. Warten ist
kein Bausparvertrag, das ist ein Sichanvertrauen auf offener See. Kein
Wunder, dass wir so etwas in Filmen gern sehen.
Ich habe mit einem Mann in Sicherungsverwahrung über das Warten gesprochen,
einem Menschen, der nicht weiß, ob und wann er wieder in Freiheit leben
wird. „Ich habe versucht, das Warten einfach abzustellen“, hat er gesagt.
„Dann kann man auch nicht enttäuscht werden.“ Warten macht verletzlich,
weil es Hoffnung bedeutet. Die hat er sich nicht austreiben können.
„Langsam kommt das Warten zurück in mein Leben“, sagte er. „So, als käme
Luft in einen Luftballon.“
Ich weiß nicht, ob und wie man ein Leben führen kann, das Autarkie und
Demut vereinbart. Den Glauben an die eigene Kraft und die Demut, zu warten.
Theoretisch geht das, aber praktisch erinnert es an die Manager, die zwei
Wochen ins Schweigekloster gehen, um danach kraftvoller rationalisieren zu
können. Vielleicht lässt sich ein Rest hinüberretten, eine Ahnung, dass es
eine Welt jenseits des ewigen Aktionismus gibt.
20 Dec 2015
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Gerechtigkeit
Alltag
Warten
Schweiß
Einbürgerung
Flüchtlinge
Wutbürger
Kinder
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