| # taz.de -- Alltag und Digitalisierung: Das endlose Warten | |
| > Mit dem Smartphone in der Hand gibt es immer etwas zu tun. So haben wir | |
| > das Warten verlernt, dabei nimmt es immer mehr Zeit in unserem Leben ein. | |
| Bild: Was tun während die Wäsche wäscht? Candycrush Spielen ist eine Lösung | |
| Es könnte alles so schön sein: Die App zeigt rechtzeitig die [1][Verspätung | |
| des Zuges an] und wir trinken zu Hause in aller Ruhe den Tee aus, statt uns | |
| die Zunge zu verbrennen, um dann doch am Bahnhof in der Kälte warten zu | |
| müssen. Und wenn wir mal alleine an der Haltestelle stehen, genügt ein | |
| Griff in die Hosentasche und schon sehen wir unsere Liebsten auf dem | |
| Bildschirm. Die Digitalisierung hat nicht nur Revolutionen ermöglicht, | |
| sondern vor allem den Alltag umgewälzt. [2][Dadurch hat sich auch unser | |
| Verhältnis zum Warten radikal gewandelt.] Endlich sollen all die quälenden | |
| Zwangspausen der Vergangenheit angehören. | |
| In der vormodernen Welt wäre das unvorstellbar gewesen. Das menschliche | |
| Zeitbewusstsein war von der ewigen Wiederkehr geprägt, vom Zyklus aus Tag | |
| und Nacht, aus Sommer und Winter. Das Leben galt als immerwährender Wandel | |
| zwischen den Ereignissen und dem Warten darauf. Fünf oder zehn Minuten zu | |
| spät kommen konnte man indes nicht – es gab schließlich noch keine | |
| Schweizer Uhren. Seit die Zeit aber in die Uhr gepresst und in der | |
| kapitalistischen Welt mit Geld verrechnet wird, bleibt für vermeintlich | |
| unproduktive Pausen keine Zeit mehr. Alles soll immer schneller werden und | |
| immer weiter wachsen. | |
| Wie wir es im Alltag mit dem Warten halten, mit diesen kleinen, | |
| unscheinbaren Aufschüben, spiegelt also nicht nur unseren Umgang mit der | |
| Zeit wider, sondern auch den Geist unserer Epoche: der Zeit, seit die | |
| ersten Smartphones aufkamen. Das gesamte Wirtschaftssystem ist ja schon | |
| lange auf die sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet – durch die | |
| Digitalisierung soll dieses Versprechen nun endlich in Gänze wahr werden. | |
| Wer einen Film schauen möchte, muss nicht tagelang auf die nächste | |
| Vorstellung warten, sondern kann sofort auf Play drücken. Und je schneller | |
| die Bits und Bytes schließlich durch den virtuellen Raum fliegen, desto | |
| überflüssiger soll die Verzögerung auch in der Kommunikation werden. Noch | |
| aus der Bahn können Kund*innen bestellen, was am nächsten Tag vor der | |
| eigenen Haustür liegt, während Menschen in der Lieferindustrie unter großem | |
| Druck arbeiten [3][– oder auf den nächsten Job warten müssen]. Wer selbst | |
| über die eigene Zeit verfügen kann und wer nicht, das ist also stets auch | |
| Ausdruck der Machtverhältnisse. Dabei gilt heute als glücklich, wer nicht | |
| mehr warten muss. | |
| ## Kurzes Warten ohne Ende | |
| Doch die Realität sieht anders aus. Noch immer sitzen wir ständig an der | |
| Bushaltestelle, am Bahnhof oder im Wartezimmer. Und zu allem Überfluss | |
| warten wir auch noch auf die Aktualisierung der Verspätungsmeldungen, auf | |
| Updates, Downloads – und auf neue Nachrichten. | |
| Noch vor wenigen Jahren wurden Briefe geschrieben, und erst nach einigen | |
| Tagen setzte das Warten auf eine Antwort ein. In derselben Zeit, in der man | |
| einst einen Brief verfasste, schreiben wir heute 30 oder 40 Nachrichten – | |
| und direkt nach dem Absenden beginnt das Warten. Während viele Menschen | |
| eine Aufenthaltsgenehmigung, ein Spendeorgan oder eine schlimme Diagnose | |
| erwarten, ist das digitale Warten meist kurz und harmlos. Aber es nimmt | |
| eben doch kein Ende – und es belastet uns. | |
| Es ist eine paradoxe Situation, denn ausgerechnet in der digitalen Welt | |
| wird das Warten geradezu exponiert – und damit rückt es ins Zentrum unserer | |
| Aufmerksamkeit. Ob blaue und grüne Haken oder Ladebalken, ob die drei | |
| Punkte, während jemand zurückschreibt, oder die digitale Verspätungsanzeige | |
| am Bahnhof: Alles scheint irgendwie auf das Warten ausgerichtet zu sein. | |
| Die postmoderne Erwartung, unsere Wünsche sofort zu erfüllen, ist | |
| allgegenwärtig, doch zugleich werden wir ständig auf das Gegenteil | |
| aufmerksam gemacht. Die kleinen und größeren Aufschübe stehen im digitalen | |
| Schaufenster – in einem äußerst ungünstigen Licht. Was lange eine kleine | |
| Abneigung war, ist dadurch zur schweren Allergie geworden: Egal, ob wir auf | |
| eine Nachricht oder auf Erkenntnisse, auf die Bahn oder eine Bestellung | |
| warten – es ist mitunter kaum erträglich. | |
| Wir haben das Warten verlernt. Und das hat fatale Folgen. Nur wer geduldig | |
| ist, kann nämlich Vorfreude empfinden. Sie ist das Glück der Wartenden – | |
| und hat in Zeiten der Same-Day-Delivery keinen leichten Stand. So ergeht es | |
| in unserer schnellen Welt auch der Geduld. Komplexe Sachverhalte lassen | |
| sich kaum im Vorbeigehen erfassen, man muss Unklarheiten aushalten und | |
| beharrlich bleiben. Geduld ist aber auch wichtig, um abzuwägen und kluge | |
| Entscheidungen zu treffen. Auf den richtigen Moment und auf kreative | |
| Einfälle muss man warten können – im digitalen Zeitalter ist das keine | |
| leichte Übung. | |
| ## Zwischen Anstrengung und großem Potenzial | |
| Aber das Warten hat sich noch in anderer Weise verändert: Wenn wir an der | |
| Bushaltestelle oder am Bahnhof stehen, sind wir permanent beschäftigt und | |
| ständig erreichbar. Einfach warten? Wegen der digitalen Reizüberflutung ist | |
| das nur noch schwer vorstellbar. Aber ist das wirklich so schlimm? Wer | |
| definiert überhaupt, was zu viel, was gut und was schlecht ist? Ist die | |
| Trennung zwischen offline und online nicht ohnehin eine quasi | |
| steinzeitliche? | |
| Zu warten kann ziemlich anstrengend sein und doch wohnt diesem Zustand | |
| gerade im Alltag großes Potenzial inne – wenn wir das Warten als Sandkorn | |
| im Getriebe der pausenlosen Verwertungsmaschinerie begreifen. Und wenn wir | |
| diese Pause nutzen, um dabei in die Welt hinauszuhorchen und in uns hinein. | |
| Ohne Ärger und Ablenkung. Doch längst ist es eine Binsenweisheit, dass wir | |
| nie mehr ganz dort sind, wo wir gerade sind, seit das Internet mobil wurde. | |
| Selbst wenn wir schon am Gleis stehen, weil uns die App nicht rechtzeitig | |
| über die Verspätung informiert hat, müssen wir uns nie langweilen – unser | |
| Smartphone hält stets eine Überraschung bereit. | |
| Momente der Einsamkeit oder der Langeweile scheint es kaum noch zu geben. | |
| In einer betriebsamen Welt war das tägliche Warten eine der wenigen | |
| verbliebenen Möglichkeiten, um einfach mal im Hier und Jetzt zu verweilen | |
| und sich selbst zu spüren, um tagzuträumen oder nichts zu tun. Längst aber | |
| lauert ständig irgendwo eine neue Verlockung, eine ungelesene Nachricht, | |
| ein besseres Angebot. | |
| Doch ohne Stillstand kein Antrieb, ohne Leerlauf keine Muße. Als sich | |
| Martin Luther fast ein Jahr lang gelangweilt auf der Wartburg versteckte, | |
| übersetzte er die Bibel ins Deutsche. Was wäre wohl gewesen, wenn er ein | |
| Smartphone bei sich gehabt hätte? Ob Isaac Newton wirklich den Apfel hätte | |
| vom Baum fallen sehen, um daraufhin die Gravitationslehre zu begründen, | |
| wenn er auf dem Tablet gespielt hätte, statt wartend und grübelnd im Garten | |
| zu sitzen? | |
| Und unsere Kommunikation? Es braucht wenig Mut, jemanden online anzustupsen | |
| oder in sozialen Medien anonym mit Hetze zu überziehen. Wer hingegen am | |
| Bahnhof die Vereinzelung überwinden will, muss zunächst sich selbst | |
| überwinden. Das Warten wird so zum Möglichkeitsraum zufälliger Begegnungen | |
| und des persönlichen Austauschs. Aber auch dieser Austausch selbst braucht | |
| die Pausen: Sie erzeugen die Dramaturgie und verleihen dem Gesagten | |
| Gewicht. Erst in der bedeutungsschwangeren Zwischenzeit gedeiht unsere | |
| Fantasie. Sehnsucht und Hoffnung finden dort ebenso Platz wie die Sorge um | |
| andere, wenn die sich nicht melden. Diese Pausen verbinden uns als | |
| Menschen. Doch in der digitalen Echtzeit spricht die Zeit kaum noch. Mit | |
| der Zeit ist es ja heutzutage so, dass sie vor allem verfliegt. | |
| Vielleicht kann uns das Warten die Zeit ja zurückbringen. Zumindest aber | |
| kann es uns wieder mit ihr verbinden – wenn wir unser Smartphone denn mal | |
| lautlos stellen. Es wäre ja auch absurd, ausgerechnet das, was uns so | |
| wertvoll ist und wovon wir so wenig zu haben scheinen, beim Warten | |
| totschlagen zu wollen: die Zeit. | |
| 8 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Timo Reuter | |
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