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# taz.de -- Rechtsruck in Polen: Demokratie in Gefahr
> Kaum ist die polnische Regierung im Amt, versucht sie schon, Medien und
> Justiz auf Linie zu bringen. Die meisten Polen interessiert das kaum.
Bild: Mariusz Kamiński, wegen Amtsmissbrauch verurteilt, jetzt Geheimdienst-Ko…
Warschau taz | Vor zwei Wochen wurde es unheimlich in Polen. Die neue
Regierung war gerade im Amt. Und in Breslau, der Kulturhauptstadt Europas
2016, brannte auf dem schönen Rathausplatz mit den bunten Häusern eine
Puppe. Sie trug schwarze Schläfenlocken und hielt [1][eine Europaflagge in
der Hand].
Die Menge skandierte: „Gott, Ehre und Vaterland!“, als ein Mann mit
weiß-rotem Schal den „Juden“ mit Benzin übergoss und anzündete. Später
wurde daraus: „Polen den Polen!“ Das Nationalradikale Lager und die
Allpolnische Jugend schwenkten dazu die weiß-rote polnische Flagge.
Gut zwei Wochen ist es her – aber bisher hat in der Warschauer Regierung
niemand darauf reagiert. Auch Staatspräsident Andrzej Duda schweigt.
Die Bevölkerung zuckt mit den Schultern. Was zählt, sind der Kontostand und
das Kleingeld im Portemonnaie. Kaum jemand liest noch Zeitungen. Die
wichtigeren Informationsquellen sind wieder der Priester auf der Kanzel und
Radio und Fernsehen, die den ganzen Tag lang laufen. Das Verbrennen der
„Judenpuppe“ hätte nicht unbedingt sein müssen, finden viele. Aber deshalb
gleich dagegen protestieren?
## Demokratur – oder gleich Staatsstreich?
Am 25. Oktober 2015 wurde in Polen die neue Regierung gewählt: Die
rechtsnationale Partei „Recht und Gerechtigkeit“, PiS, erhielt die absolute
Mehrheit im Parlament. Seitdem [2][baut sie den Staat so gründlich um],
dass viele schon von einer Demokratur sprechen – oder von einem
Staatsstreich.
So begnadigte Präsident Duda seinen Exparteifreund Mariusz Kamiński, der
als Chef der Antikorruptionsbehörde wegen Amtsmissbrauch in erster Instanz
zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Jetzt ist er Koordinator der
Geheimdienste und soll eng mit dem neuen Justizminister Zbigniew Ziobro
zusammenarbeiten. Viele fürchten politische Urteile über die bisher
Regierenden, denn Justizminister Ziobro und PiS-Parteichef Jarosław
Kaczyński haben bereits Disziplinarverfahren gegen unbotmäßige
Staatsanwälte und Richter angekündigt.
Der für seine Verschwörungstheorien berüchtigte Antoni Macierewicz wurde
zum Verteidigungsminister ernannt. Er will nun die Ermittlungen zur
Flugzeugkatastrophe von Smolensk erneut aufrollen, bei der 2010 Polens
damaliger Präsident Lech Kaczyński sowie 95 andere Menschen starben.
Macierewicz ist davon überzeugt, dass der Unfall in Wahrheit ein russischer
Anschlag gewesen sei. Er glaubt, dass sich polnische Politiker daran
beteiligt haben, zum Beispiel Donald Tusk, damals polnischer Premier und
heute Präsident des Europäischen Rates.
## „Repolonisierung“ des Medienmarkts
Der Kulturminister Piotr Gliński wiederum erklärte, Polens
öffentlich-rechtlichen Medien und die Polnische Presseagentur in
„staatliche Kulturinstitute“ verwandeln zu wollen. Der private Medienmarkt
soll „repolonisiert“ werden und die „Eigentumsverhältnisse“ sollen
verändert werden. Ein großer Teil polnischer Zeitungen und Zeitschriften
wird von deutschen Verlegern herausgegeben.
Schon einmal, in den Jahren 2005 bis 2007, hat PiS regiert. Doch die Macht
der Partei wurde damals begrenzt durch die beiden Koalitionspartner, eine
schlagkräftige Opposition und ein Verfassungsgericht, das zu radikale
Gesetze als „nicht verfassungskonform“ an das Parlament zurückverwies.
Gleich nach Amtsantritt griff das Parlament deshalb das Verfassungsgericht
an. Es soll als Kontrollinstanz ausgeschaltet werden.
Das giftige Hohngelächter der PiS-Abgeordneten im Parlament wird den Polen
noch lange in den Ohren klingen. Die Politiker hatten ein Gesetz
verabschiedet, mit dem sie loyale Richter ernennen konnten und diese dann
auch gleich ernannten. Am Donnerstag hat Präsident Duda eilig vier neue
Richter vereidigt.
## „Ihr dürft noch zuhören.“ Mehr nicht
Politiker der liberalkonservativen Bürgerplattform und der Bauernpartei,
die in den letzten acht Jahren die Regierung gestellt hatten, hatten das
Gesetzesprojekt nicht einmal zum Durchlesen erhalten. „Wozu?“, fragte einer
der PiS-Politiker. „Eure Stimme ist nichts mehr wert, gar nichts! Wir haben
das Mandat der Bürger bekommen. Ihr dürft noch zuhören. Das ist es dann
aber schon.“
Hintergrund des Streites sind die fünf Richterstellen, die die
liberalkonservative Regierung im Oktober noch schnell besetzt hatte –
obwohl sie nur drei hätte besetzen dürfen. Das Verfassungsgericht entschied
jetzt, dass drei der Neubesetzungen der alten Regierung rechtens waren. Die
Vereidigung der vier neuen Richter durch den neuen Präsidenten war
unzulässig. Das Parlament muss jetzt noch zwei neue Richter ernennen.
Die Bevölkerung weiß nicht, was sie von dem Spektakel halten soll. Viele
verstehen nicht, worum es eigentlich geht und welche Aufgabe diese 15
Richterinnen und Richter in ihren schwarzen Roben haben.
## Demütigung der Mächtigen von einst
So stimmten zunächst viele PiS-Wähler voll Schadenfreude in das hämische
Lachen ein. Hatten die ehemaligen Minister nicht teure Uhren besessen, ohne
sie in der Vermögenserklärung anzugeben? Hatten sie nicht in
Luxusrestaurants auf Kosten der Steuerzahler geprasst und noch dazu über
den polnischen Staat, die eigene Außenpolitik und die polnischen
Durchschnittsverdiener gelästert? Das peinliche Spektakel im Sejm gefiel
vielen, die Demütigung der einst Mächtigen, die Schadenfreude der Sieger.
In einer Mitte November durchgeführten Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts TNS Polska stiegen die Zustimmungswerte für die
PiS vom Wahlergebnis 37,5 Prozent auf 44 Prozent an, die der zuvor
regierenden Bürgerplattform hingegen sanken von 24 Prozent auf gerade mal
17 Prozent.
Die Angst der Polen vor den Flüchtlingen spielt dabei eine wichtige Rolle.
Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende von PiS, schürte diese Angst bei jeder
Gelegenheit, warnte vor Parasiten und gefährlichen Krankheiten, die die
Flüchtlinge angeblich einschleppen würden, ohne selbst daran zu erkranken.
In Schweden gebe es inzwischen 54 Bezirke, in denen die Scharia
verpflichtend sei und es keinerlei Kontrolle des Staates mehr gebe. Schulen
würden sich nicht mehr trauen, die schwedische Fahne zu hissen, da auf ihr
ein Kreuz zu sehen sei. Ähnlich sei es in Italien, wo die Kirchen mitunter
als Toiletten missbraucht würden.
Mit der PiS, so die Botschaft, müssen die Polen keine Angst haben. Die
Partei lässt die Flüchtlinge nicht ins Land. Auch wenn sie sich mit der
ganzen EU anlegen muss.
## Von den Liberalen im Stich gelassen
Obwohl die Zustimmung zur Regierungspartei zunächst weiter wuchs, glauben
inzwischen 55 Prozent der Polen, dass die Demokratie in Gefahr sei. Das
stellte das Meinungsforschungsinstitut Ibris Ende November fest. 35 Prozent
der Befragten sind anderer Meinung, darunter vor allem die jungen Polen im
Alter von 18 bis 24 Jahren, die in den Oktober-Wahlen überwiegend rechte
und rechtsradikale Parteien gewählt hatten.
Sie fühlen sich schon lange von den Liberalen im Stich gelassen. Als die
alte Regierung den Markt „öffnen“ wollte, änderten sie die
Zugangsvoraussetzungen für Berufe, sodass die Berufsabschlüsse von
Hunderttausenden Studenten und Facharbeitern plötzlich nichts mehr wert
waren. Viele der jungen Leute müssen als Ungelernte mit sogenannten
Müllverträgen arbeiten. Ohne Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Und
ohne Kündigungsschutz. Polens Jugend ist nun überwiegend stramm rechts.
## Versprechen der PiS
Die PiS hat viele Wahlversprechen gegeben, die Regierung und Parlament
jetzt einhalten müssen: Sie will die „Müllverträge“ abschaffen, einen
höheren Steuerfreibetrag für Geringverdiener durchsetzen, 125 Euro
Kindergeld einführen und das Renteneintrittsalter für Frauen auf 60 Jahre
senken und für Männer auf 65 Jahre.
Nur langsam formiert sich erster Widerstand gegen die Regierung. Das
„Komitee zum Schutz der Demokratie“ auf dem Portal Facebook zählt
inzwischen rund 40.000 Unterstützer und fordert dazu auf, bei öffentlichen
Demonstrationen für Freiheit und Demokratie einzutreten.
Während Premierministerin Beata Szydło die blauen Europafahnen mit den
zwölf goldenen Sternen aus dem Saal für Pressekonferenzen verbannte, da die
weiß-roten polnischen Fahnen „die schönsten überhaupt“ seien, leuchten a…
der Facebook-Seite beide Fahnen einträchtig nebeneinander.
6 Dec 2015
## LINKS
[1] /Verbrennung-von-Juden-Puppe-in-Polen/!5254667
[2] /Polen-nach-dem-Machtwechsel/!5254222
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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