Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Europa in der Krise: Völliger Kontrollverlust
> Hunderttausende Flüchtlinge: Das könnte der Anfang vom Ende der
> Europäischen Union sein. „Solidarität versus Souveränität“ lautet das
> Dilemma.
Bild: Mit Isolierdecken gegen Wind und Wetter: Flüchtlinge auf der griechische…
Brüssel taz | „Lasst uns nicht schon wieder über die Krise der Europäischen
Union jammern. Die echten Krisen und Kriege spielen sich ganz woanders ab –
in Syrien oder in der Ukraine!“ Das sagte die Fraktionsvorsitzende der
Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, am Dienstag in einer Aussprache
zur Flüchtlingskrise in Straßburg. Es klingt so richtig – und greift doch
viel zu kurz.
Natürlich ist es wahr, dass Europa angesichts des Miniweltkriegs in Syrien
und des neuen Kalten Kriegs um die Ukraine wie ein Hafen des Friedens
wirkt. Das ist auch ein Grund, weshalb Hunderttausende auf den alten
Kontinent flüchten. Wahr ist aber auch, dass die Flüchtlingskrise Europa in
den Grundfesten erschüttert. Sie könnte der Anfang vom Ende der EU sein.
Das Problem sind dabei nicht einmal die Flüchtlinge. Natürlich ist ein Land
wie Deutschland in der Lage, eine Million Menschen aufzunehmen, vielleicht
auch zwei. Das Problem ist, dass Brüssel völlig die Kontrolle verloren hat.
Die EU kann weder die Außengrenzen schützen noch die Migrationsströme in
Europa steuern. Gleichzeitig will sie aber die inneren Grenzen offen
halten.
Daraus entsteht ein Dilemma, das für die europäische Einigung tödlich sein
kann. Schließlich beruht diese Einigung auf der freiwilligen Zusammenarbeit
souveräner Staaten. Die EU kommt nun in einen Zielkonflikt zwischen
Souveränität und Solidarität, zwischen dem Ziel der Steuerung der Migration
und dem Grundsatz des freien Personen- und Warenverkehrs. Das birgt
Sprengstoff.
## Brisante Mischung
Wie brisant diese Mischung ist, zeigen die Ereignisse der vergangenen
Wochen. Zunächst pochten die osteuropäischen Staaten auf ihre Souveränität.
Dann forderten Brüssel und Berlin mehr Solidarität. Dieser Konflikt ließ
sich erst durch massiven Druck lösen. Doch der Beschluss der Innenminister,
insgesamt 160.000 Flüchtlinge in der EU zu verteilen, steht bisher nur auf
dem Papier.
Die Länder leisten passiven Widerstand – und melden keine oder viel zu
wenige Aufnahmeplätze an. Insgesamt stehen bisher nicht einmal 1.000 Plätze
zur Umverteilung bereit. Damit ist auch das Konzept der „Hotspots“ und der
geplanten Auffanglager zum Scheitern verurteilt. Sie erfüllen ihre Funktion
nicht, und sie kommen nicht schnell genug zustande – wie die Beschlüsse
beim Balkangipfel am vergangenen Wochenende zeigen.
Wie soll Athen in kürzester Zeit 30.000 Aufnahmeplätze aus dem Boden
stampfen? Und das ausgerechnet zu einer Zeit, da die Sparkommissare in
Brüssel wieder die dringend benötigten Hilfskredite zurückhalten? Und wo
sollen weitere 50.000 Plätze auf dem Balkan entstehen? In Kroatien, das
noch bis vor Kurzem alle Flüchtlinge durchgewunken hat? In Bulgarien, das
mit Korruption und organisiertem Verbrechen kämpft?
Womit wir wieder beim Scheitern wären. Es droht nicht nur in Griechenland
oder auf dem Balkan, sondern auf ganzer Linie. Die EU ist nicht einmal an
der Suche nach einer Lösung für Syrien beteiligt, wie der liberale
Fraktionschef Guy Verhofstadt zu Recht moniert. Beim Wiener Kongress seien
die europäischen Mächte wenigstens noch beteiligt gewesen, sagte er, heute
machen die USA und Russland alles unter sich aus – ohne die EU.
## Erdogan macht, was er will
Selbst über die Türkei, einen Beitrittskandidaten, hat Brüssel die
Kontrolle verloren. Präsident Erdoğan macht, was er will, setzt sich über
die in den Kopenhagener Kriterien verankerten Grundrechte hinweg und
versucht sogar, die EU mit den Flüchtlingen zu erpressen. Statt sich zu
wehren, gehen Juncker und Merkel auf Schmusekurs. Damit verraten sie die
Werte, die sie in der Flüchtlingspolitik schützen wollen.
So verheddert sich die EU immer mehr in Widersprüche, ohne einer Lösung
näherzukommen. Denn die Flüchtlinge wissen von den jüngsten Plänen, die auf
eine stärkere Abschottung hinauslaufen, und verlassen umso schneller ihre
Quartiere. Je mehr Brüssel die Menschen „entmutigen“ und die „Ströme
verlangsamen“ will, desto stärker wird der Andrang.
Dieser Kontrollverlust wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn die EU ihren
Bürgern die Perspektive auf eine bessere Zukunft bieten könnte. Doch außer
in Deutschland ist das kaum noch der Fall.
Der neoliberale Kurs und die hoffnungslose Eurorettung haben die meisten
EU-Länder in eine Dauerkrise gestürzt, bei der Flüchtlinge nur noch wie
eine zusätzliche Last erscheinen. Gleichzeitig heizt die Flüchtlingskrise
auch die Anti-EU-Stimmung in Großbritannien und Frankreich an. Wenn es so
weitergeht, droht der EU ein böses Erwachen.
28 Oct 2015
## AUTOREN
Eric Bonse
## TAGS
Europäische Union
Flüchtlinge
Rebecca Harms
Recep Tayyip Erdoğan
Balkan
Serbien
Schwerpunkt Flucht
Ukraine
Schwerpunkt Flucht
Großbritannien
Schwerpunkt Flucht
Parlamentswahl Türkei 2015
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Flüchtlinge
Recep Tayyip Erdoğan
Flüchtlinge
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bekenntnisse zur EU auf dem Balkangipfel: Serbien muss sich entscheiden
Die EU muss beim Balkangipfel gegenüber Serbien ihre Werte Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Toleranz deutlich machen.
Debatte Europäische Flüchtlingspolitik: Europa? Welches Europa?
Die Massenflucht in die Europäische Union wirft einmal mehr die Frage auf:
Was ist Europa und wer entscheidet darüber?
Konflikt zwischen Russland und Ukraine: Keine Flüge, kein Gas, kaum Kohle
Russland reduziert die Kohlelieferungen an die Ukraine. Kiew bestellt kein
Gas mehr in Moskau und sperrt den Luftraum für russische Flugzeuge.
Flüchtlinge in Bulgarien: Berichte von Misshandlungen
Raub und Gewalt: Menschenrechtler bezeichnen die Zustände in Bulgarien als
„absolut inakzeptabel“. Die Regierung weist die Vorwürfe zurück.
Camerons Reformwünsche an die EU: Klare Forderungen aus London
Der britische Premier verlangt grundlegende Änderungen des EU-Vertrags, um
in der Union zu bleiben. Brüssel reagiert distanziert.
Flüchtlingsumverteilung in der EU: Von Griechenland nach Luxemburg
Das Umsiedlungsprogramm der EU von Süd- nach Westeuropa hat begonnen. Vor
Lesbos ertrinken schon wieder Menschen auf der Flucht.
Türkei vor der Wahl am Sonntag: Die Angst vor den weißen Toros
Am Sonntag wählen die Türken erneut. Recep Tayyip Erdoğans AKP wird wohl
wieder keine absolute Mehrheit erreichen.
Bürgermeister von Lesbos: Fähren für Flüchtlinge
Wieder sind Boote vor Lesbos gekentert. Rund 3.000 Migranten sind seit
Jahresbeginn in der Ägäis ertrunken. Tausende sind auf der Balkanroute
unterwegs.
Flüchtlingsboot vor Lesbos gekentert: Drei Tote, Dutzende Vermisste
Erneut ist ein Flüchtlingsboot in der Ägäis gekentert. Fischer und
Küstenwache retteten hunderte Insassen. Doch Dutzende werden noch vermisst.
Beleidigung des türkischen Präsidenten: Staatsanwalt klagt Jungs an
Zwei 12 und 13 Jahre alte Jungen sind wegen Beleidigung Erdogans angeklagt.
Die Staatsanwaltschaft fordert mindestens 14 Monate Haftstrafe.
Kommentar zum EU-Sondergipfel: Keiner hat die Absicht, Lager zu bauen
Auf dem Balkan sollen Flüchtlinge in sogenannten Hotspots aussortiert
werden. Die Balkanstaaten sollen Merkels Drecksarbeit erledigen.
Europäische Asylpolitik: EU will Balkan zur Transitzone machen
Brüssel und Berlin planen riesige Auffanglager für Flüchtlinge auf dem
Balkan. Die Menschen sollen von dort direkt abgeschoben werden.
EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik: Slowenien winkt mit dem Zaunpfahl
Die Nerven der Länder entlang der Westbalkanroute liegen blank. Slowenien
droht damit, die Grenze dicht zu machen. Merkel und Juncker müssen liefern.
Kommentar EU-Flüchtlingsgipfel: Erdogan, hilf!
Der dunkle Herrscher der Türkei soll für die EU die Flüchtlingsdrecksarbeit
machen. Dafür bekommt er Milliarden Euro und wird hofiert.
EU-Innenministertreffen zu Flüchtlingen: Die Lage ist außer Kontrolle
Kommissionspräsident Juncker will in der EU ein umfassendes Programm zur
Flüchtlingskrise. Doch die Aussichten stehen schlecht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.