| # taz.de -- Türkei vor der Wahl am Sonntag: Die Angst vor den weißen Toros | |
| > Am Sonntag wählen die Türken erneut. Recep Tayyip Erdoğans AKP wird wohl | |
| > wieder keine absolute Mehrheit erreichen. | |
| Bild: Nicht auf Versöhnung aus: Premier Ahmet Davutoğlu. | |
| Istanbul taz | Vor wenigen Tagen hatte der amtierende Ministerpräsident | |
| Ahmet Davutoğlu einen Wahlkampfauftritt in der kurdischen Stadt Van. Er | |
| sagte dort einen Satz, der die gesamte Türkei aufhorchen ließ: Wenn ihr uns | |
| nicht wählt, wenn wir wieder keine absolute Mehrheit bekommen, werden die | |
| weißen Toros zurückkehren. | |
| Die weißen Toros, das ist eine Automarke, mit der bei der kurdischen | |
| Bevölkerung schlimme Erinnerungen verknüpft sind. Diese in Lizenz gebauten | |
| türkischen Renault-Autos wurden in den 90er Jahren vom Geheimdienst des | |
| Militärs genutzt. Rollte damals ein weißer Toros ins Dorf, wussten die | |
| Leute, dass wieder einmal Männer abgeholt wurden, die man niemals | |
| wiedersah, oder allenfalls Jahrzehnte später in einem Massengrab verscharrt | |
| vorfand. | |
| DavutoğlusSatz war eine massive Drohung. Er scheint die Befürchtung vieler | |
| Türken und Kurden zu bestätigen, dass die Regierung der Partei für Recht | |
| und Entwicklung (AKP) und Präsident Recep Tayyip Erdoğannicht bereit sein | |
| werden, eine Niederlage bei den Wahlen am Sonntag zu akzeptieren. | |
| Seit Wochen tourt Davutoğludurch die Türkei und führt einen ausgesprochenen | |
| Angstwahlkampf. Tenor: Sollten wir verlieren, werden Terror und Chaos | |
| überhandnehmen; wenn wir verlieren, bricht die Wirtschaft zusammen und eure | |
| Kinder werden keine Jobs mehr bekommen; falls die AKP nicht wieder die | |
| absolute Mehrheit erhält, kommt ein verlorenes Jahrzehnt auf euch zu. | |
| ## Wird Erdoğan zu einer Koalition bereit sein? | |
| Doch so sehr Davutoğluund Erdoğandrohen und schimpfen, die Wähler scheinen | |
| wenig beeindruckt. Nahezu alle Umfragen sagen voraus, dass die Neuwahlen am | |
| Sonntag mehr oder weniger dasselbe Ergebnis bringen werden wie der | |
| Urnengang im Juni. | |
| Die kurdisch-linke HDP (Demokratische Partei der Völker) wird aller | |
| Wahrscheinlichkeit nach trotz der jüngsten Kämpfe mit der kurdischen | |
| Guerilla PKK erneut die Zehnprozenthürde überspringen und ins Parlament | |
| einziehen. Falls dies eintrifft, wird die AKP mit rund 40 Prozent erneut | |
| die absolute Mehrheit verfehlen. Am Ende stünde die gleiche Situation wie | |
| im Juni: Es bedarf einer Koalition, um eine Regierung zu bilden. | |
| Die Frage, die deshalb im Moment das Land bewegt, ist nicht so sehr, wie | |
| die Wahlen ausgehen werden. Alle Experten, Journalisten und Abgeordneten | |
| beschäftigen sich bereits damit, ob Präsident Erdoğandieses Mal bereit sein | |
| wird, das Ergebnis zu akzeptieren und eine Koalitionsregierung zu | |
| unterstützen. Gibt es eine Rückkehr zur Normalität? Oder werden Gewalt und | |
| Chaos weitergehen, bis der Präsident entweder durch eine Notstandsregierung | |
| oder womöglich einen dritten Wahlgang endlich seinen | |
| Alleinherrschaftsanspruch durchsetzen kann? | |
| Die Ereignisse der letzten Tage, darin sind sich alle Kommentatoren in den | |
| Erdoğan-kritischen Medien einig, sprechen dafür, dass der Präsident nicht | |
| daran denkt, zu einem demokratischen Kurs zurückzukehren. | |
| Statt nach dem verheerenden Terroranschlag am 20. Oktober in Ankara die | |
| Gesellschaft gegen die Gewalt zusammenzuführen, spalteten Erdoğanund sein | |
| Ministerpräsident Davutoğluweiter. Wider alle politische Vernunft und | |
| entgegen jeder kriminalistischen Expertise behaupteten beide, neben dem IS | |
| seien auch die PKK und der syrische Geheimdienst an dem Anschlag beteiligt | |
| gewesen. | |
| Diese Desinformationskampagne hat dazu geführt, dass immerhin dreißig | |
| Prozent der AKP-Anhänger fest davon überzeugt sind, die kurdische PKK habe | |
| die überwiegend kurdischen Friedensdemonstranten von Ankara in die Luft | |
| gesprengt. | |
| Dass der Generalstaatsanwalt vor zwei Tagen öffentlich verkündete, die | |
| Ermittlungen hätten eindeutig ergeben, der Terroranschlag sei vom IS aus | |
| Syrien bei einer Schläfergruppe in der Türkei in Auftrag gegeben worden, | |
| kam bei diesen Leuten gar nicht mehr an. | |
| ## Keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung | |
| Auch das Vorgehen Erdoğansgegen oppositionelle Medien lässt wenig Hoffnung | |
| auf eine Rückkehr zur Normalität. Nachdem die Polizei am Mittwoch auf | |
| Grundlage einer offensichtlich rechtswidrigen Entscheidung des Präsidenten | |
| gewaltsam zwei Fernsehsender stürmte und anschließend lahmlegte, scheint | |
| nicht mehr infrage zu stehen, dass die Zeit, in der die Regierung auf die | |
| öffentliche Meinung in der Türkei und im Ausland noch Rücksicht nahm, | |
| vorbei ist. | |
| Stattdessen kündigte ein Abgeordneter der AKP lauthals an, nach der Wahl | |
| werde man auch die restlichen Erdoğan-kritischen Medienhäuser ausschalten. | |
| Weltweit protestierten zwar die einschlägigen Journalisten- und | |
| Menschenrechtsorganisationen, doch die Regierungen des Westens halten sich | |
| auffällig zurück. Die deutsche Bundeskanzlerin lässt schweigen und auch vom | |
| US-State Department kam keine Reaktion. | |
| Stattdessen hält die EU einen sehr kritischen Fortschrittsbericht über die | |
| Türkei bewusst zurück, um bei Erdoğankeinen Unmut zu erregen. Denn der Mann | |
| wird ja gebraucht. Im Moment sitzt die Türkei in Wien mit am Tisch der | |
| Mächtigen, um über eine Lösung für den Syrienkrieg zu beraten, und in | |
| Berlin und Brüssel werden die Rufe immer lauter, ohne Erdoğanwerde man die | |
| Flüchtlingskrise nicht in den Griff bekommen. | |
| In zwei Wochen, am 15./16. November, werden sich die mächtigsten | |
| PolitikerInnen der Welt zum G-20-Gipfel im türkischen Antalya als Gäste | |
| Erdoğanseinfinden. Unter anderem soll dort darüber geredet werden, wie man | |
| die Opfer des Krieges in Syrien entweder im Land direkt oder doch zumindest | |
| in den Anrainerstaaten festhalten kann. Man darf wohl davon ausgehen, dass | |
| Merkel und die anderen dann über die demokratischen Defizite | |
| Erdoğansgroßzügig hinwegsehen werden. | |
| 31 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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