| # taz.de -- Nach der Parlamentswahl in der Türkei: „Ein rabenschwarzer Tag“ | |
| > Regierungschef Davutoglu fordert eine neue Verfassung. Damit will Erdogan | |
| > ein Präsidialsystem einführen. Die HDP kritisiert den Wahlkampf als | |
| > „unfair“. | |
| Bild: Ein Kurde liest die Wahlergebnisse. Er hätte sich wohl mehr Plätze für… | |
| Istanbul dpa | Nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg der | |
| islamisch-konservativen AKP in der Türkei hat Ministerpräsident Ahmet | |
| Davutoglu eine neue Verfassung für das Land gefordert. Der AKP-Chef | |
| appellierte in der Nacht zu Montag bei seiner Siegesrede in Ankara an die | |
| drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien, dabei mit der AKP | |
| zusammenzuarbeiten. „Lassen wir die Putschverfassung hinter uns, und fassen | |
| wir alle zusammen mit an für eine zivile und freiheitliche Verfassung“, | |
| sagte Davutoglu laut der Nachrichtenagentur Anadolu. | |
| Eine Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems ist erklärtes | |
| Ziel von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und der von ihm | |
| mitgegründeten AKP. Die derzeitige Verfassung stammt aus der Zeit der | |
| Militärherrschaft nach dem Putsch von 1980. Für ein Referendum über eine | |
| Verfassungsreform sind 330 Abgeordnete nötig – 13 mehr, als die AKP nach | |
| der Wahl im Parlament haben wird. Die drei Oppositionsparteien – die | |
| Mitte-Links-Partei CHP, die pro-kurdische HDP und die ultrarechte MHP – | |
| sind strikt gegen ein Präsidialsystem. Sie befürchten eine autokratische | |
| Herrschaft Erdogans. | |
| HDP-Chef Selahattin Demirtas bezeichnete die Wahl als unfair, da seine | |
| Partei wegen der jüngsten Anschläge und Gewalt im kurdischen Südosten | |
| keinen richtigen Wahlkampf führen konnte. | |
| Auch ein Wahlbeobachter des Europarats in der Türkei, der Schweizer | |
| Sozialdemokrat Andreas Gross, hat die Parlamentswahl in der Türkei | |
| kritisiert. Die Türken hätten zwar die freie Wahl zwischen verschiedenen | |
| Parteien gehabt, sagte er am Montag im Deutschlandradio Kultur. Von einer | |
| „Fairness des Prozesses“ könne aber nicht die Rede sein. Seit der Wahl im | |
| Juni habe es viel Gewalt gegeben, Journalisten seien eingeschüchtert, | |
| Zeitungen und Fernsehsender dichtgemacht worden, kritisierte Gross. Das | |
| habe auch zu Selbstzensur geführt. Die Gewalt habe zudem den Wahlkampf | |
| behindert. | |
| ## Zügige Regierungsbildung | |
| Nach der Neuwahl zum Parlament wird in Ankara mit einer zügigen | |
| Regierungsbildung gerechnet. Entgegen allen Vorhersagen der | |
| Meinungsforscher konnte Erdogans AKP bei der Wahl mit knapp 50 Prozent der | |
| Stimmen die vor fünf Monaten verlorene absolute Mehrheit zurückerobern. | |
| Nach den vorläufigen Ergebnissen sicherte sich die AKP 317 der 550 Sitze in | |
| der Nationalversammlung. Die CHP kommt demnach auf 134, die HDP auf 59 und | |
| die MHP auf 40 Abgeordnete. | |
| Bei der Wahl im Juni hatte die AKP ihre absolute Mehrheit erstmals seit | |
| Übernahme der Regierung im Jahr 2002 verloren. Nachdem Koalitionsgespräche | |
| gescheitert waren, rief Erdogan Neuwahlen aus. Die Opposition warf dem | |
| Präsidenten vor, eine Koalition mit der CHP gezielt verhindert zu haben, um | |
| Neuwahlen zu erzwingen und die absolute Mehrheit zurückzuerobern. | |
| Erdogan beglückwünschte die AKP – der er formal nicht mehr angehört, für | |
| die er aber Wahlkampf gemacht hatte – am Montag zu ihrer Alleinregierung. | |
| Davutoglu kündigte an, die Rechte aller Bürger und die Meinungs- und | |
| Glaubensfreiheit zu schützen. „Die Feinde der neuen Türkei haben einmal | |
| mehr verloren“, sagte er. „Die Wahl vom 1. November war das Referendum für | |
| die neue Türkei. Ihr habt gezeigt dass die alte Türkei tief begraben ist | |
| und nie wieder zurückkehren wird.“ | |
| ## Wahlmanipulation befürchtet | |
| Der AKP-Wahlsieg wird nach Einschätzung der Grünen-Politikerin Claudia Roth | |
| negative Konsequenzen für die EU in der Flüchtlingskrise haben. Sie glaube, | |
| dass Erdogan künftig der EU seine Bedingungen diktieren werde, sagte die | |
| Bundestags-Vizepräsidentin dem Sender WDR 5 am Montag. Roth sprach mit | |
| Blick auf den Wahltag von einem „rabenschwarzen Tag für die Türkei“. | |
| Erdogans „Strategie der Polarisierung“ sei aufgegangen. | |
| Die Türkei ist ein Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Über das Land | |
| kommen die meisten Flüchtlinge in die EU. Bundeskanzlerin Angela Merkel | |
| (CDU) war deswegen zwei Wochen vor der Parlamentswahl zu Gesprächen mit | |
| Erdogan nach Istanbul gereist. Roth sagte: „Ich glaube, es war ein großer | |
| politischer Fehler von Angela Merkel, dass unsere Kanzlerin so unmittelbar | |
| vor der Wahl zu Erdogan gefahren ist – zu einem Politiker, der alles andere | |
| als Demokratie im Sinn hat.“ | |
| Nach Einschätzung des CDU-Außenpolitikers Elmar Brok könnte das klare | |
| Wahlergebnis für die EU dagegen von Vorteil sein. Jetzt gebe es die | |
| Voraussetzungen dafür, auf einer stabilen Grundlage Gespräche über die | |
| Flüchtlingskrise und den Syrien-Konflikt zu führen, sagte der Vorsitzende | |
| des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament am Montagmorgen der | |
| Deutschen Presse-Agentur. | |
| Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), wertete den | |
| Wahlausgang in der Türkei als klares Signal der Wähler für „Stabilität und | |
| für Frieden“. Beides werde „am ehesten der AKP zugetraut“, sagte Roth. | |
| Anhaltspunkte für Wahlmanipulationen, wie sie in den Reihen der Grünen | |
| vermutet werden, lägen ihm nicht vor. | |
| Der Chef der Grünen im Europaparlament, Reinhard Bütikofer, hatte die EU | |
| aufgefordert, das Wahlergebnis sorgfältig unter die Lupe nehmen. „Man wird | |
| genau hingucken müssen, inwieweit das in seinen Dimensionen doch | |
| überraschende Ergebnis einfach das Ergebnis einer Fehlprognose aller | |
| dortigen Demoskopen gewesen ist oder möglicherweise auch das Ergebnis von | |
| Manipulationen“, sagte der deutsche Politiker. | |
| ## Türkische Wähler in Deutschland | |
| Bei den türkischen Wählern in Deutschland hat die AKP überproportional gut | |
| abgeschnitten. Auf sie seien 59,7 Prozent der in der Bundesrepublik | |
| abgegebenen Stimmen entfallen, berichtete die staatsnahe Nachrichtenagentur | |
| Anadolu am Montag. Insgesamt kam die AKP bei der Wahl vom Sonntag auf 49,5 | |
| Prozent der Stimmen. | |
| Die pro-kurdische HDP wurde in Deutschland diesen vorläufigen Ergebnissen | |
| zufolge mit 15,9 Prozent zweitstärkste Kraft (Gesamtergebnis: 10,8 | |
| Prozent). Die Mitte-Links-Partei CHP kam auf 14,8 Prozent (25,3 Prozent), | |
| die ultrarechte MHP auf 7,5 Prozent (11,9 Prozent). Rund die Hälfte der 2,9 | |
| Millionen wahlberechtigten Türken im Ausland lebt in Deutschland. | |
| 2 Nov 2015 | |
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