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# taz.de -- Eskalation in Jerusalem: Messer um Messer
> Die Gewalt nimmt zu im Nahostkonflikt. Auf beiden Seiten gibt es immer
> wieder Tote. Ein Besuch bei den Hinterbliebenen der Opfer.
Bild: Freitagsgebet außerhalb der gesperrten Altstadt Jerusalems.
Jerusalem taz | Eine vierspurige Straße trennt den palästinensischen
Stadtteil Beit Hanina von dem jüdischen Siedlerviertel Pisgat Seew. Eine
Brücke verbindet beide Wohngegenden im arabischen Ostteil Jerusalems. Die
Cousins Hassan Mohany und Ahmad Manasra, 15 und 13 Jahre alt, sind „öfter
mal über die Brücke nach drüben gegangen, in die Mall, um sich ein Eis zu
kaufen oder ein Videospiel“, sagt Mohammad Mohany, ihr Cousin.
Einige Dutzend Männer haben sich vor dem Haus der Mohanys in Beit Hanina
versammelt. Sie trauern um Hassan, der vor wenigen Tagen erschossen wurde.
Die beiden Jungen sind „drüben“ mit Messern auf Passanten losgegangen, wie
Aufnahmen von Überwachungskameras belegen. Ein gleichaltriger Radfahrer und
einen 20-jähriger Israeli trugen schwerste Verletzungen davon.
Seit zwei Wochen vergeht kaum ein Tag, ohne dass ein Israeli mit dem Messer
überfallen wird und ohne dass ein palästinensischer Angreifer noch am Ort
der Attacke an- oder erschossen wird. Der palästinensische Präsident Mahmud
Abbas sagte am Mittwoch in einer Rede, Israel lasse mit „Angriffen gegen
unser Volk, unser Land und unsere religiösen Stätten“ die Situation
eskalieren.
Seit Jahren bewegt sich nichts mehr im Friedensprozess, während Israel mit
immer neuen Wohnungen in den Siedlungen die Zweistaatenlösung zusätzlich
erschwert. Auch der Verhandlungsmarathon, den US-Außenminister John Kerry
über Monate vorantrieb, endete Anfang des Jahres ergebnislos. Frieden, so
Abbas, könne es erst geben, wenn Israel die Besetzung aufgebe.
## Hass und Härte
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hingegen bestreitet jede Verbindung
zwischen den neuen Unruhen und Gewaltübergriffen und der verfahrenen
politischen Situation. Nicht die Besetzung sei schuld, sondern „einzig der
Wille, uns zu zerstören“. Von „blankem Judenhass“ ist in Jerusalems
Regierung die Rede, auf den mit Härte reagiert werden müsse.
Beide Seiten sehen sich als Opfer. Anstatt den Dialog neu anzutreiben, um
die Eskalation abzumildern, lässt Israel arabische Wohnviertel abriegeln
und verschärft die Straßenkontrollen mitten in der Stadt. Mehrere
Polizeiwagen quer über die Straße machen einen improvisierten Checkpoint,
an dem arabische Fahrer kontrolliert werden. Vier von fünf
palästinensischen Angreifern stammen aus Jerusalem. Um Attentate zu
vergelten, lässt die Regierung Familienhäuser abreißen und Eigentum
konfiszieren. Neben der Grenzpolizei sind seit Mitte der Woche auch einige
Hundert Soldaten im Einsatz.
Auslöser ist wie im vergangenen Jahr der Streit um den Tempelberg in
Jerusalems Altstadt. Unter Palästinensern besteht die Sorge, Israel werde
das alleinige Gebetsrecht für Muslime abschaffen. Israels Regierung
streitet ab, den Status quo verändern zu wollen, doch die provokativen
Besuche nationalreligiöser Politiker, die laut über die Errichtung eines
jüdischen Tempels auf dem umstrittenen Areal reden, finden eher ein offenes
Ohr als die beruhigenden Worte von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Islamische Extremisten schüren die Propaganda mit getürkten Videos, die sie
via Facebook, Twitter und Whatsapp verbreiten. In einem der Kurzfilme ist
ein etwa 50-jähriger Mann in Hebron zu sehen, der auf Hebräisch versucht,
die Soldaten zu beruhigen. Wenig später hört man Schüsse, und der Mann
liegt auf dem Boden. Der Eindruck entsteht, dass auf ihn geschossen wurde,
dabei war der Mann nur gestolpert.
## Brennpunkt des Konflikts
Abbas weist bei jeder Gelegenheit auf die ausschließlichen Rechte „der
Palästinenser und Muslime“ auf den Tempelberg hin, der „von den schmutzigen
Füßen“ der Israelis nicht „entweiht“ werden dürfe. Immer stärker wird…
Tempelberg, der Juden und Muslimen gleichermaßen heilig ist, zum Brennpunkt
des Konflikts. Nun sind es Messer, die als Angriffswaffen benutzt werden –
oder zur Verteidigung, je nachdem aus welcher Richtung man den Konflikt
betrachtet.
Als „kaltblütigen Mord“ bezeichnete Abbas die Schüsse ausgerechnet auf den
kleinen Ahmad, der den Zwischenfall im Siedlerviertel Pisgat Seew
überlebte, während der ältere Cousin Hassan starb. „Nur sein Vater durfte
die Leiche sehen“, berichtet Mohammad Mohany, und Ahmad, der im
israelischen Hadassah-Krankenhaus liegt, habe bislang nur ein Anwalt
besuchen dürfen. „Der Mob hat ihm schwer zugesetzt“, berichtet Mohammad. In
Bildern, die das israelische Fernsehen zeigte, um die These von Abbas zu
widerlegen, der Junge sei tot, ist Ahmad hellwach und signalisiert mit
einer Handbewegung Unmut über die Aufnahmen.
„Er hat schwere Brüche an den Gliedmaßen und eine Halswirbelfraktur“,
berichtet Mohammad Mohany, der angehender Allgemeinmediziner ist. Erst vor
Kurzem kehrte der 26-Jährige aus Deutschland nach acht Jahren Studium in
Mainz zurück. Ein praktisches Jahr fehlt ihm noch zum Facharzt. Sobald er
gut genug Hebräisch spricht, geht es für ihn ins Westjerusalemer
Krankenhaus Schaare Zedek. In einer israelischen Einrichtung zu arbeiten
findet er unproblematisch. „Unter Medizinern funktioniert die Kooperation“,
sagt er. „Wir verfolgen alle das Ziel, jedem Menschen in Not beizustehen.“
## „Brutaler Feind“
Im 8. Stock genau dieses Krankenhauses liegt Meir Pawlowski und präsentiert
seine beiden längs über den gesamten Bauch führenden Narben wie zwei
Heldenmale. „Ich habe meine Därme auf der Erde liegen sehen“, sagt der
31-Jährige über den Angriff eines angeblich nur 13-jährigen Palästinensers,
der entkommen konnte. „Er hatte den Mord in den Augen“, sagt Pawlowski. Mit
den Händen auf den Bauch gedrückt, sei er noch einige Meter weitergelaufen
und habe gespürt, wie ihn das Messer immer wieder in den Rücken traf.
Zweieinhalb Liter Blut habe er verloren und sich dem Tod schon nahe
gesehen.
Erst vor sieben Jahren immigrierte der Konvertit aus der Ukraine und ließ
sich in einer der Minisiedlungen in Hebron nieder, wo er täglich zum
Studium der frommen jüdischen Texte in die Synagoge geht. „Ich dachte, wenn
ich sterbe, dann nicht ohne Grund, sondern für etwas Wichtiges, für das
Volk Israel.“ Alle paar Minuten steckt ein Besucher den Kopf ins
Krankenzimmer. Meist sind es Leute, die Pawlowski gar nicht kennen, fromme
Juden, die ihm rasche Genesung wünschen. „Mir war schon immer klar, dass
wir es mit einem brutalen Feind zu tun haben, aber ich hätte nicht damit
gerechnet, dass es mich selbst treffen könnte.“
Der „brutale Feind“ ist jetzt oft ein sehr junger Palästinenser, der keiner
politischen Organisation angehört. Die Angreifer haben die Hoffnung auf
einen eigenen Staat und auf Freiheit aufgegeben, sie sind frustriert über
die eigene Führung und die Besetzung, und sie werden getrieben von einer
Atmosphäre der Wut und Angst, die sich auch unter Israelis täglich
zuspitzt. Zweimal schon griffen junge Juden zum Messer, um auf Araber
einzustechen. Israels Sicherheitskräfte und bewaffnete Zivilisten halten
den Finger am Abzug, bereit, abzudrücken, sobald Gefahr droht.
„Jeder, der Juden angreift oder Unschuldige verletzt, verdient den Tod“,
erklärte der Kommandant der Jerusalemer Polizei, Mosche Edri, und
Oppositionspolitiker Jair Lapid fordert dazu auf, „jeden zu töten, der ein
Messer oder einen Schraubenzieher aus der Tasche zieht“.
## Kein Stolz, kein Jubel
Am Haus der Familie Mohany in Beit Hanina hängt ein Plakat mit den Fotos
der beiden Jungen. Der eine mit Sonnenbrille, der andere mit Wintermütze.
Freunde und Klassenkameraden sind gekommen, um bei der Familie zu sein. Von
Stolz oder gar Jubel, mit denen Angriffe gegen Juden andernorts oft
gefeiert werden, ist nichts zu spüren. „Hier gibt es nur Trauer“, sagt
Cousin Mohammad. Die Idee, die Familie habe sich Hassan als „Schahid“, als
Märtyrer, gewünscht, weist der angehende Mediziner von sich. Der Junge war
gerade in die zehnte Klasse gekommen.
„Er war ein begabter Schüler und guter Sportler“, sagt sein Onkel Abdel
Nasser Mohany über ihn. „Wir vermissen ihn sehr.“ Ein halbes Dutzend von
Hassans Klassenkameraden sitzt schweigend im Halbkreis vor dem Bild des
Freundes. Er hätte „keiner Katze etwas zuleide getan“, sagt Mohammad zu dem
Vorwurf, Hassan sei mit dem Messer auf Unschuldige losgegangen. „Manchmal
schieben sie schnell noch ein Messer unter die toten Körper.“ Und Ahmad,
der gerade 13 Jahre alt geworden ist, wie solle von so einem Jungen Gefahr
ausgehen?
Schon am Tag nach dem Zwischenfall seien Sicherheitskräfte gekommen, die
einen älteren Bruder und den Vater Hassans verhafteten. Ein Amateurvideo
dokumentiert die Worte eines israelischen Kommandanten vor den
Trauergästen: „Wenn von hier aus ein einziger Stein oder ein
Molotowcocktail auf die Straße fliegt, komme ich wieder und breche euch
allen Arme und Beine.“ Mohammad Mohany spricht von „Provokationen der
Siedler“, die sich mit „Tod den Arabern“-Rufen Beit Hanina näherten.
Die Aggression von Siedlern, daran zweifelt auch die Familie von Fadi Allun
nicht, war die Ursache für den Tod des 19-Jährigen Anfang Oktober. Auf dem
Weg zum Morgengebet, so erzählt es Fadis Tante Rima Allun, die auch in Beit
Hanina wohnt, sei er von Siedlern „überfallen worden“. Der Vater sei
untröstlich, sagt Allun, „30 Jahre hat mein Bruder in einer israelischen
Druckerei gearbeitet.“ Politik habe die Familie nie beschäftigt. Fadi sei
vor den Siedlern weggelaufen, habe bei Grenzpolizisten Hilfe gesucht, „die
ihn auf der Stelle erschossen“. Anschließend hätten sie ihm die Kleidung
ausgezogen „und nichts gefunden – kein Messer und keine Pistole“. Die
Menschenrechtsorganisation B’Tselem widerlegt diese Darstellung.
Videoaufnahmen zeigten, dass Fadi ein Messer in der Hand trug. Aber zum
Zeitpunkt der tödlichen Schüsse sei niemand in seiner Nähe gewesen.
Die anhaltende Gewalt findet Widerhall in New York und Washington. Für
Freitag berief der UN-Sicherheitsrat eine Dringlichkeitssitzung ein.
US-Außenminister John Kerry will in den kommenden Tagen nach Jerusalem und
Ramallah reisen. Reden, verhandeln. Aber wen wird das besänftigen?
17 Oct 2015
## AUTOREN
Susanne Knaul
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