# taz.de -- Israel-Palästina-Konflikt: Nur kleine Schritte sind möglich | |
> Während die Angst der Bevölkerung wächst, fehlt in Israel und Palästina | |
> der politische Wille, die Spannungen zu entschärfen. | |
Bild: Nach der Attacke: Israelischer Soldat und eine Frau unter Schock am Jerus… | |
Jerusalem taz | Als im Zug jemand meint, einen Terroristen entdeckt zu | |
haben, bricht Panik aus. Die Notbremse wird gezogen. Voll Angst drängen | |
Dutzende Leute zu den Türen, springen die Stufen hinab, rennen los. Am Ende | |
ist es nur ein Gerücht. Niemand hatte vor, willkürlich mit einem Messer um | |
sich zu stechen. Sieben Leute müssen mit Schock ins Krankenhaus. | |
Falscher Alarm legt auch in Tel Aviv den Verkehr stundenlang lahm. Auf der | |
Suche nach zwei verdächtigen Arabern sperrt die Polizei eine zentrale | |
Straßenkreuzung. Die beiden sind zur Arbeit in Tel Aviv – und, wie sich | |
später erweist, harmlos. | |
Seit gut zwei Wochen vergeht kein Tag, an dem nicht ein Palästinenser | |
versucht, Israelis mit einem Messer anzugreifen. Jedes Mal wird der Täter | |
von Pistolenkugeln niedergestreckt. | |
Auf beiden Seiten wächst die Angst, plötzlich angegriffen oder fälschlich | |
für einen Angreifer gehalten zu werden. Schon ist von einer neuen Intifada | |
die Rede. Aber für einen palästinensischen Volksaufstand müssten sich die | |
Palästinenser zunächst einmal in den eigenen Reihen einig sein. | |
## Uneinigkeit begrenzt Gewalt | |
Die beiden großen Organisationen Fatah und Hamas bleiben jedoch zerstritten | |
– und diesem Zwist ist es zu verdanken, dass die palästinensische Führung | |
in Ramallah in jenen Gebieten, die unter ihrer Kontrolle stehen, die Gewalt | |
in Grenzen hält. | |
Ganz andere Regeln gelten indes für Ostjerusalem und den Gazastreifen. Und | |
wieder ganz anders ist die Lage in den arabisch-israelischen Ortschaften – | |
an der einzigen Front, an der es bislang keine Toten gab. | |
In Israel, wo die Araber rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, gab | |
es bislang vier von Staatsbürgern verübte Übergriffe – je zwei Täter waren | |
muslimische, die anderen beiden jüdische Israelis. | |
Alle vier Angreifer gelten als psychisch labil. Die beiden Araber zogen los | |
in der Hoffnung, Helden zu werden, und die zwei Juden wohl im Irrglauben, | |
in der allgemeinen Aufregung ihrem Zorn ungeschoren freien Lauf lassen zu | |
können. | |
## Koexistenz auf Augenhöhe | |
Solchen Wahnsinn gibt es nur in Extremsituationen, und beide | |
Bevölkerungsgruppen gingen unmittelbar sehr deutlich auf Distanz zu dem | |
gefährlichen Verhalten ihrer Angehörigen. | |
Eine Koexistenz auf Augenhöhe oder fast auf Augenhöhe ist möglich. Dass | |
Juden, Muslime und Christen friedlich zusammenleben können, zeigt gerade in | |
diesen Wochen das Verhalten von Israels Arabern, die sich zwar mit ihren | |
Glaubensbrüdern in Ostjerusalem und in den Palästinensergebieten | |
solidarisieren, bei ihrem Protest aber die Gesetze achten. | |
Damit entlarven sie die haltlosen Rechtfertigungen von Regierungschef | |
Benjamin Netanjahu. Der meint, die erneute Gewalt habe nichts mit dem | |
Mangel an politischen Initiativen und dem Siedlungsbau zu tun, sondern sei | |
allein Ausdruck dessen, dass „sie uns vernichten wollen“. | |
Netanjahu setzt deshalb ausschließlich auf Härte, stockt das | |
Sicherheitspersonal auf, errichtet Straßensperren, lässt Attentäter und | |
ihre Familien strenger bestrafen. Die Täter sind in der Regel sehr junge | |
Palästinenser, die keiner politischen Organisation angehören und den | |
Sicherheitsorganisationen nie aufgefallen sind. Vier von fünf Angreifern | |
stammen aus Ostjerusalem. | |
## Nichts zu verlieren | |
Viele handeln aus Frustration über das soziale Gefälle und über die | |
Besetzung. Sie sind aktiv in den sozialen Netzwerken. Sie wurden einer | |
Gehirnwäsche unterzogen durch islamistische Propagandavideos mit Lügen über | |
den Plan eines jüdischen Tempelbaus an der Stelle, wo heute der Felsendom | |
steht. | |
Der Tod schreckt die jungen Leute nicht, wenn sie losziehen, um auf | |
Israelis einzustechen. Ihrem eigenen Leben scheint ihnen ohnehin keine | |
Zukunft beschieden zu sein. Beim Tempelberg treffen sich die Fronten und | |
stimmen ein ins ideologische Unisono. | |
Die Ziele der Palästinenser sind keineswegs alle gleich: „Sie greifen | |
Israelis an, aber sie verachten die PA [Palästinensische | |
Autonomiebehörde]“, wie der politische Analyst Alex Fishman in Jedioth | |
Ahronot beobachtet. | |
Im Westjordanland wächst der Unmut über die Zusammenarbeit von | |
palästinensischer Polizei und israelischer Armee. Diese Kooperation dauert | |
an, obwohl der Friedensprozess zum Stillstand gekommen ist und neue | |
Siedlungen gebaut werden. | |
## Putsch nur eine Frage der Zeit | |
Zugleich zeigt sich die palästinensische Führung unfähig, ihren Streit mit | |
der Hamas, die den Gazastreifen regiert, beizulegen. Präsident Mahmud Abbas | |
gilt als korrupt und autoritär. Er könnte die Demonstranten, die die | |
Soldaten an den Kontrollpunkten mit Steinen bewerfen, viel früher abfangen, | |
wenn er die eigenen Sicherheitstruppen als Puffer postieren würde, um | |
Gewalt und Todesfälle von vornherein abzuwenden. | |
Stattdessen lässt er die jungen Palästinenser Dampf ablassen, wo es ihn | |
selbst nicht trifft. Mit jedem Toten steigt zudem die Chance, dass die Welt | |
sich wieder mehr für Palästina interessiert. Viel zu gern würden viele | |
Männer in Uniform selbst zu einem Stein greifen und auf einen Soldaten | |
zielen. | |
Auch die palästinensischen Polizisten, die im Westjordanland für Ruhe | |
sorgen und Terroristen hinter Gitter bringen, ohne dass sich Israel so | |
dafür revanchiert, wie es die Friedensverpflichtungen vorschreiben, zürnen | |
der eigenen Regierung. | |
Ein Putsch der Sicherheitsdienste ist nur eine Frage der Zeit, wenn Israel | |
den Siedlungsbau fortsetzt und die Zweistaatenlösung weiter untergräbt. Ob | |
Abbas selbst die Schlüssel an die Besatzer zurückgibt, wie er es | |
ankündigte, oder ob ihn die eigenen Leute dazu zwingen, spielt letztendlich | |
keine Rolle. | |
## Die dritte Intifada | |
Ein palästinensischer Frühling würde die innenpolitischen Fronten zwischen | |
Fatah und Hamas erweichen, bevor die dritte Intifada beginnt und wieder | |
Israel zum Ziel wird. | |
Von Konfliktmanagement ist im Nahen Osten die Rede, je klarer wird, dass es | |
auf absehbare Zeit keine Lösung geben wird. US-Außenminister John Kerry | |
will wieder vermitteln. Seine Efolgschancen stehen schlecht. Abbas hat kein | |
Interesse an einem erneuten Dialog, wenn Israel die gewonnene Zeit doch nur | |
wieder für den Ausbau der Siedlungen missbraucht. | |
Was bleibt, wären kleine Schritte, die Israel und die Palästinenser unter | |
internationalem Ansporn vorantreiben. Dazu gäbe es mehr als genug | |
Möglichkeiten: mehr Autonomie und mehr Geld für Infrastruktur, Erziehung, | |
Gesundheit und Jobs in Ostjerusalem. | |
Das könnte helfen, die Wogen zu glätten. Im Westjordanland würde ein | |
Rückzug Israels aus den noch besetzten Zonen sicher Wirkung zeitigen und | |
Platz für palästinensische Industrieanlagen schaffen. Zuallererst aber | |
müsste den Extremisten Einhalt geboten werden. | |
19 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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