# taz.de -- Zuflucht in der Kirche: Eine Matratze je Familie | |
> Seit zwei Wochen harren rund 40 Roma im Gemeindehaus des Michel aus. Die | |
> Kirche duldet sie – aber auch wirklich nur das. | |
Bild: Eine Gruppe von Roma harrt im Hamburger Michel aus. | |
HAMBURG taz | Am Freitag wird Esmeralda 15 Jahre alt. Eine Party wird es | |
nicht geben, aber ein bisschen feiern will sie schon. Und zwar in der | |
Hamburger Hauptkirche, im Michel. Da wohnt sie seit fast zwei Wochen | |
zusammen mit 42 anderen Roma. Sie alle haben sich in die prominenteste | |
Hamburger Kirche geflüchtet, um einer bevorstehenden Abschiebung zu | |
entgehen. | |
„Es ist eng, aber es ist okay“, sagt Esmeraldas Mutter. „Man kann | |
schlafen.“ Dafür haben die Schutzsuchenden zwei Räume von der Gemeinde | |
bekommen. Ehrenamtliche HelferInnen haben Decken und Luftmatratzen vorbei | |
gebracht. Darauf schlafen sie zu viert, zu fünft, oder zu acht: Jeweils | |
eine Familie auf einer Matratze. In einer Küchennische lagern Vorräte, die | |
ihnen NachbarInnen und AnwohnerInnen bringen. Äpfel liegen da in einer | |
Kiste, ein paar Brötchen, H-Milch, Instantkaffee. Kochen können sie nur auf | |
einer Herdplatte, die ihnen die Kirche ausleiht, jeden Nachmittag für drei | |
Stunden. | |
Vor fast zwei Wochen hatte die selbstorganisierte Roma-Gruppe „Romano | |
Jekipe Ano Hamburg“ die St. Michaelis Kirche vorübergehend besetzt. Den | |
Anlass hatte eine Massenabschiebung in der Nacht zuvor gegeben: Mindestens | |
14 Roma waren unangekündigt abgeholt und in Staaten des Westbalkans | |
abgeschoben worden. „Romano Jekipe Ano Hamburg“ besetzte daraufhin die | |
prominente Hamburger Kirche und forderte einen sofortigen Abschiebestopp | |
auf den Balkan und Bleiberecht für ihre Familien. Für einige Stunden hing | |
ein Transparent am Glockenturm. Die Aufschrift: „Alle bleiben.“ | |
Mittlerweile haben sich die Kirche und die Roma geeinigt: Bis auf Weiteres | |
können die Familien in den Gemeinderäumen bleiben. Was das genau heißt, | |
können die Verantwortlichen am Michel nicht sagen. Hauptpastor Alexander | |
Röder möchte sich nicht äußern. Er verweist lediglich darauf, dass die | |
Kommunikation eine Ebene höher abläuft, über den Kirchenkreis Hamburg-Ost. | |
„Wir haben den Familien unsere Unterstützung zugesichert“, bestätigt deren | |
Sprecher Remmer Koch. Die Anwälte der kirchlichen Organisation Fluchtpunkt | |
prüfen die Fälle der Familien anhand der gültigen Asylgesetzgebung. Nur | |
sieht die für Roma vom Balkan kein Asyl vor. Mazedonien, Serbien und das | |
Kosovo, wo die acht Familien im Michel herkommen, gelten als sichere | |
Herkunftsländer. Wer von dort flieht, bekommt in Deutschland kein Asyl. | |
„Ich gehe nicht zurück nach Serbien“, sagt einer aus der Gruppe, der mit | |
zwei seiner vier Kinder auf einer Luftmatratze liegt. Seinen Namen behält | |
er lieber für sich. „In Serbien haben sie meinen Bruder umgebracht. Wenn | |
ich zurückgehe, habe ich ein großes Problem.“ Eine Frau sagt: „Ich will | |
nur, dass meine Kinder in die Schule gehen. In Serbien können sie das | |
nicht.“ | |
Die Situation im Michel sei zwar nicht optimal, schon gar nicht für die | |
Kinder, sagen sie. Die hygienischen Bedingungen sind prekär – alle teilen | |
sich ein Badezimmer mit einer Toilette und einem Waschbecken. Dort müssen | |
sich 43 Menschen waschen, Zähne putzen, Geschirr abwaschen. Zweimal täglich | |
lässt die Kirche die Menschen in einem anderen Gemeindehaus duschen. | |
Ob der Michel keine größeren Räume hat, oder ob er sie den Roma nicht geben | |
will – „solche Detailfragen“ kann der Sprecher des Kirchenkreises Hamburg | |
Ost nicht beantworten. Wichtig sei jetzt erst einmal, dass man nach einer | |
Lösung suche. „Oder zumindest nach dem Hauch einer Hoffnung“, so Koch. | |
Für die Roma ist es auch ein politischer Kampf. Das Gesetz, das ihre Länder | |
zu sicheren Drittstaaten erklärt, verstößt gegen die Verfassung, meinen | |
sie. Damit sind sie nicht allein – vor einer Woche hatte die Roma und Cinti | |
Union angekündigt, gegen das Gesetz vor das Verfassungsgericht zu ziehen. | |
Das Bündnis „Recht auf Stadt – Never mind the Papers“ unterstützt die R… | |
im Michel bei ihrem Kampf ums Bleiberecht. Und beim alltäglichen Leben. | |
AktivistInnen und AnwohnerInnen kommen täglich vorbei, und helfen, im | |
gemeinsamen Plenum die nächsten Schritte zu planen. | |
Nur sehen kann man von ihrem politischen Kampf am Michel nichts. Keine | |
Transparente, keine Pinnwände, keine Flyer dürfen die Roma aufhängen. Umso | |
stolzer tragen sie ihre T-Shirts. Auch darauf steht: Alle bleiben. | |
29 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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