# taz.de -- Die SPD und die Flüchtlingspolitik: Das liebenswerte Merkhofer | |
> Populismus oder kluge Strategie? Warum sich Sigmar Gabriel in der | |
> Flüchtlingspolitik zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer | |
> positioniert. | |
Bild: LIcht und Schatten - diesen Wechsel gibt es in der Rhetorik dieser Tage a… | |
BERLIN taz | Es gibt eine neue Spezies in der deutschen Politik: Das | |
liebenswerte Merkhofer hat eine massige Statur, viel Sendungsbewusstsein, | |
und es hält tolle Reden auf SPD-Kongressen. Dem Merkhofer sagen böse | |
Zeitgenossen nach, dass es seinen Standort blitzschnell wechsle. Wie der | |
Name schon andeutet, befindet sich das Habitat im Moment zwischen Angela | |
Merkel und Horst Seehofer. | |
Zwischen einer Kanzlerin und einem CSU-Chef also, die sich in der | |
Flüchtlingspolitik so zerstritten haben, dass der eine die andere notfalls | |
vors Verfassungsgericht zerren will. | |
Das Merkhofer – Entschuldigung, der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel – aber | |
sagt: Beide Antworten, das bedingungslose Credo Merkels, aber auch die | |
Grenzen-dicht-Polemik Seehofers, „sind eigentlich ein Ausdruck der | |
Hilflosigkeit“. Die SPD dürfe dieses doppelte Spiel nicht mitspielen. | |
Stattdessen müsse sie Antworten für die Wirklichkeit entwickeln. | |
Mit diesen Sätzen umschrieb Gabriel auf dem SPD-Perpektivkongress in Mainz, | |
wie er die Sozialdemokraten bei diesem wichtigen Thema positionieren will. | |
Die SPD als Stimme der Vernunft neben zwei Partnern, die sich im | |
Dauerstreit verheddern, so sieht Gabriel seine Partei. | |
SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi mühte sich am Montag, dieses Bild zu | |
verstärken. „Abgrenzung einerseits, Durchhalteparolen andererseits, das | |
reicht nicht“, sagte sie im Berliner Willy-Brandt-Haus. Das Land habe „eine | |
Dekade der Integrationspolitik“ vor sich. „Die SPD ist der Garant dafür, | |
dass wir dabei niemanden zurücklassen.“ | |
Damit setzt die SPD-Führung eine Linie fort, auf die Gabriel sie seit | |
Wochen einschwört. Die Partei, so die Linie, darf die Sorgen ihrer | |
Wählerschaft nicht ignorieren. Wenn SPD-Abgeordnete durch Wahlkreise | |
touren, hören sie selbst von hilfsbereiten Bürgern oft eine Frage: „Wie | |
viele kommen denn noch?“ Tag für Tag gehen im Willy-Brandt-Haus 150 Mails | |
zu dem Thema ein. Dabei sind Hassmails vom rechten Rand, vor allem aber | |
melden sich verunsicherte Mitglieder und Wähler. | |
Viele machen sich Gedanken über die Integration. Ortsverbände bitten um | |
Hilfe, weil die Schulturnhalle überfüllt ist. Menschen haben Angst, keine | |
Wohnung mehr zu finden. Fahimi drückte das so aus: „Es gibt auch den ein | |
oder anderen, der sich um seine persönliche Zukunft sorgt, um seinen | |
Arbeitsplatz oder seine Kinder.“ | |
Genau diese Stimmung nimmt die SPD-Spitze auf. Sie weiß, dass zu ihren | |
Wählern auch Arbeiter oder arme Menschen gehören, die sich vor sozialer | |
Konkurrenz durch die Flüchtlinge fürchten. Seit gut einer Woche betonen | |
deshalb Spitzengenossen auffällig oft, dass Deutschland sich den Grenzen | |
seiner Möglichkeiten nähere. | |
Diesen Tenor wiederholte der SPD-Chef auch [1][in einem Fernsehinterview am | |
Sonntag], das Aufsehen erregte, weil sich Gabriel wieder mit einer | |
Moderatorin anlegte. Als ihm die ZDF-Journalistin Bettina Schausten in | |
einer Frage unterschob, er habe ja Obergrenzen für Flüchtlinge benannt, | |
raunzte Gabriel zurück: „Nichts von dem, was Sie sagen, ist richtig.“ | |
## Die Chance, sich von Merkel abzugrenzen | |
In der Tat war das ein Missverständnis. Die SPD-Spitze benennt eben keine | |
Obergrenze für die hohen Flüchtlingszahlen. Sie sagt, irgendwann sei das | |
Ende der Fahnenstange erreicht. Aber sie sagt nicht, wann das sein soll. | |
Gabriel schreibt mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Spiegel, die | |
Politik müsse die Zuwanderungszahlen senken. „Denn wir können nicht | |
dauerhaft in jedem Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge aufnehmen und | |
integrieren.“ Dieser Satz ist eine Binsenweisheit. Kein vernünftiger Mensch | |
hat je behauptet, Deutschland könne problemlos 10, 20 oder 30 Millionen | |
Flüchtlinge aufnehmen. | |
Das liebenswerte Merkhofer existiert also doch nicht, auch wenn Biologen | |
das Gegenteil behaupten. Stattdessen gibt es einen SPD-Vorsitzenden, der | |
die Chance nutzt, sich von Merkel abzugrenzen, wissend, dass viele Wähler | |
der liberalen Rhetorik der Kanzlerin immer skeptischer gegenüberstehen. Ob | |
diese Strategie aufgeht, ist offen. Die SPD liegt in Umfragen weiter bei 25 | |
Prozent, die Union aber ist leicht auf 38 Prozent abgesackt. Und Merkels | |
Beliebtheit sinkt. | |
Während Merkel gewohnt wolkig argumentiert, versucht Gabriel mit Offenheit | |
zu punkten. In seiner Rede auf dem Kongress betonte er zum Beispiel, dass | |
der Staat mehr Wohnungen, mehr Schulen und mehr Kitas finanzieren müsse, um | |
Verteilungskämpfe zu vermeiden. Sogar eine Zahl nannte er: Der Bund müsse | |
die 4 bis 6 Milliarden Euro, die er den Ländern und Kommunen gerade | |
zusätzlich überweise, in den nächsten Jahren verstetigen. Das war neu. | |
Bisher hat sich nur die SPD-Arbeitsministerin getraut, Milliardenkosten im | |
Sozialetat zu thematisieren. Merkels CDU hüllt sich hier lieber in | |
Schweigen. | |
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Merkels und Gabriels Lösungen kaum | |
unterscheiden. Wie die Kanzlerin betont auch er, dass andere EU-Staaten | |
mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen. Beide sagen, dass vor allem die Türkei | |
Hilfe benötigt, weil sie ein wichtiger Transitstaat ist. Und beide glauben, | |
dass es am Wichtigsten ist, die Krisenstaaten im Nahen Osten zu | |
stabilisieren. Denn von dort kommen die Flüchtlinge. | |
Diese Ideen schränken die Zuwanderung nicht so schnell ein, wie es | |
vielleicht nötig wäre, das weiß Gabriel natürlich. Denn das Wichtigste sagt | |
auch der SPD-Chef nicht. Seine Partei hat keinen Masterplan, der des | |
Ansturms Herr werden könnte. Den hat nämlich niemand. | |
12 Oct 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.youtube.com/watch?v=cuORMYZHzQo | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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