# taz.de -- „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Ich bin keine schwache… | |
> Wir verließen das Haus in Tunesien, ohne uns von meinen Söhnen zu | |
> verabschieden. Niemand dachte damals, dass ich für immer gehe. | |
Bild: Als ich an der großen Brücke bei der Behmstraße in Berlin ankam, vermi… | |
Ich ging im Park spazieren, als ich ihn sah. Erst wusste ich nicht, ob er | |
echt war – oder nur ein Phantom, das aus der Erde spross, um meiner | |
Einsamkeit ein menschliches Antlitz zu geben. Vielleicht war es auch nur | |
der Schatten jenes Olivenbaumes, der im Garten meiner Großmutter stand. Es | |
schien, als wäre er vom herbstlich bewölkten Himmel gefallen. Wie konnte | |
ich ihn bisher nie bemerkt haben? | |
Jeden Tag gehe ich im Volkspark Humboldthain in Berlin spazieren, um die | |
neue Luft zu atmen, der es nicht gelingt, den Geruch der scharfen | |
Vergangenheit, der an mir haftet, auszulöschen. Ich habe die Ecken des | |
Hauses meiner Kindheit zurückgelassen und explodiere fast über den Blüten | |
der Gegenwart, die zu Bilder meiner Vergangenheit werden, die doch so fern | |
jetzt sind. Ich sah sogar meine Mutter vor mir, wie sie die wilden Felder | |
ihres Garten bewässerte und mich umarmte. | |
Genau wie ich öffnete der Olivenbaum seine Arme und streckte sie einer | |
imaginären Mutter entgegen; die Schatten der Äste bewegten sich durch das | |
saftige Gras auf mich zu. Eine leichte Brise murmelte in meinen Ohren, | |
schließlich brach eine vertraute Stimme die unangenehme Stille. Es schien, | |
als fürchtete sich der Olivenbaum so wie ich, denn er zitterte im Wind. Ich | |
spürte den Tau auf den Blättern, die blass und staubig waren. So ähnlich | |
sah auch ich aus an jenem traurigen Tag, an dem ich zu Hause auf meinem | |
Bett saß, meine Habseligkeiten, meine Bücher, meine Manuskripte um mich | |
verstreut. | |
Meine Augen fixierten die Unordnung, Stimmen flüsterten in mein Ohr: „Wie | |
kannst du diesen Ort verlassen, deine Familie, Freunde, deinen Balkon. Wer | |
wird deinen Rosenbaum gießen?“ Ich war wie gelähmt. | |
Während ich in Gedanken versank, kam meine Freundin. „Dein Flug geht in | |
einer Stunde“, sagte sie. Ich tat, als hörte ich sie nicht. Als sie es | |
merkte, griff sie nach einer Tasche und packte ein, was sie finden konnte. | |
Sie zog mich aus dem Zimmer, wir verließen das Haus, ohne uns von meinen | |
Söhnen und meiner Mutter zu verabschieden. Ohne den Rosenbaum gegossen zu | |
haben. | |
## Nun betrog ich ihr Vertrauen | |
Niemand dachte damals, dass ich für immer gehe. Die Jungs dachten, ich | |
ginge nach Korbous, um Urlaub zu machen. Sie hatten mich schon öfters mit | |
einer Reisetasche gesehen, wie ich in den Urlaub fuhr. Immer kam ich nach | |
Tagen oder Wochen zurück. Doch nun betrog ich ihr Vertrauen, um meine | |
eigene Freiheit zu schützen. | |
Manche Leute denken, es sei leicht, dein Land zu verlassen und woanders ein | |
neues Leben zu beginnen. Doch das ist es nicht. | |
Als ich an der großen Brücke bei der Behmstraße in Berlin ankam, | |
vermischten sich die Bilder vor meinen Augen mit meinen Tränen. Nicht weit | |
von mir setzte ein kleines Mädchen ihre Papierboote auf einen Tümpel im | |
Mauerpark – oder war es schon der Tegeler See? – damit der Wind sie nach | |
Süden in Richtung der Küste von La Marsa, meiner so sehr geliebten Stadt, | |
treibt. | |
Obwohl die Äste des Olivenbaums so zierlich sind und die Wurzeln sogar | |
nackt in der Luft hängen, versucht er zu überleben und ein Teil des neuen | |
Grundes zu werden. Dennoch wird er die Parkbesucher, die sich über ihn | |
wundern, nie überzeugen, dass er ein einheimischer Baum ist. Er wird immer | |
anders sein, weil ihn jemand in dieses neue Land gepflanzt hat, in dem er | |
nach seiner Identität sucht. | |
Für Menschen, die große Schrecken erlebt haben, ist es nicht einfach, ihre | |
Ängste zu überwinden. Ich habe das erlebt, als ich in Weimar, meinem ersten | |
Halt in Deutschland, angekommen war. Überall sah ich gruselige Gestalten. | |
Ich konnte nicht vor einem Fenster sitzen oder spazieren gehen, ohne mich | |
ständig wie in Panik umzudrehen und zu vergewissern, dass niemand mir | |
folgt. Auch jetzt kann ich noch immer nicht in meiner Wohnung bleiben, ohne | |
die Tür abzuschließen. Doch damals war es schlimmer. Meine Angst war | |
zeitweise so groß, dass ich die Tür von innen mit schweren Möbelstücken | |
verbarrikadierte, bevor ich ins Bett ging. | |
Als ich später nach Berlin zog, beschloss ich, mich meinen Ängsten zu | |
stellen. Umso mehr, nachdem ich Shamsou Eddin – einen irakischen | |
Kommunisten – traf und sah, wie er lebte. Er war vor vielen Jahren – damals | |
war Ahmed Hasan al-Bakr irakischer Präsident – aus dem Gefängnis geflohen. | |
Jetzt blieb er in seiner Angst gefangen, er hielt das Gefängnis in seinem | |
Inneren aufrecht, nie konnte er die langen und einsamen Nächte vergessen, | |
die ins Heulen der Wölfe gehüllt waren. | |
## Dunkle Einsamkeit | |
Noch immer schließt er seine Wohnung mit sechs Metallschlössern ab und | |
vertraut kaum jemandem. Nur drei Freunde hat er, Kameraden, die mit ihm im | |
Gefängnis saßen und so denken wie er. Wie viele andere konnte er zwar | |
seinen Körper retten, aber seine Gedanken, seine Erinnerungen nicht | |
befreien. Wenn er im warmen Mantel der Stadt Berlin vor Angst zittert und | |
sich in eine dunkle Einsamkeit begibt, hält er sich selbst in einem großen | |
Gefängnis gefangen. | |
Für mich war es einfacher, meine Ängste abzulegen, weil ich mich mit ihnen | |
konfrontierte. Ich konfrontierte mich mit den Erinnerungen an jene große | |
schwarzen Masse, die im August 2012 vor meiner Haustür in Tunesien | |
aufschlug. So bedrohten mich die Terroristen und versuchten, mich zu Tode | |
zu erschreckten. Trotz meines Durchhaltevermögens werde ich diesen Abend | |
nie vergessen. | |
Aber ich gebe nicht auf. Ich bin keine schwache Frau, wie die Terroristen | |
dachten. Und weil meine neue Heimat keine Grenzen kennt, bin ich in der | |
Lage – im übertragenen Sinne – mit Worten, mit Zeilen, viele weitere Gärt… | |
zu bepflanzen. | |
Ich wünsche mir oft, dass die Menschen ihre Religion zu ihrem Besten | |
genutzt hätten und nicht als Vorwand, um ganze Landstriche zu zerstören und | |
unschuldige Menschen abzuschlachten. Aber was ich gesehen habe, lässt meine | |
Hoffnung schwinden. Jemand der seine Seele nicht von ritueller Ignoranz | |
lösen kann, kann sich niemals mit seiner Umgebung arrangieren, auch wenn er | |
seine Heimat verlässt, um Sicherheit und Frieden zu suchen. So jemand | |
begreift das nicht, da er seine fanatischen Überzeugungen nicht ablegen | |
kann. | |
Leider gibt es viele in meiner Umgebung – und nicht nur Flüchtlinge – die | |
dies bestätigen. Ich kam in Berührung mit Menschen aus verschiedenen | |
Ländern, die Schwierigkeiten hatten, sich in ihrer neuen Umgebung | |
einzugewöhnen. | |
## „Du bist eine freundliche Frau“ | |
Komische Sachen habe ich dabei auch erlebt. Einmal hatte ich eine Lesung in | |
einem arabischen Club in Berlin – im Publikum nur Männer. Sie waren | |
gekommen, um die tunesische Frau anzuschauen, nicht jedoch, um ihr | |
zuzuhören. Außer mir war nur noch eine Frau da, die in der Küche arbeitete | |
und Tee servierte. Nachdem ich meine Lesung beendet hatte, schien mir, dass | |
ich in einer arabischen Stadt war: Ihre Fragen, ihre Blicke und ihre | |
Mentalität versetzten mich zurück in die Zeit in Tunesien, die man den | |
Arabischen Frühling nannte. | |
Damals kam eine sehr nette, verschleierte Frau vorsichtig auf mich zu und | |
flüsterte mir ins Ohr: „Du bist eine freundliche, gute Frau, bitte trage | |
das Kopftuch. Es steht dir gut und verleiht dir Respekt.“ Ich lächelte, | |
ohne ein Wort zu sagen. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie wie die | |
anderen auf einer isolierten Insel lebt. | |
Und das wiederum erinnerte mich daran, wie ich mit dem Bus in eine sehr | |
ländliche Gegend im Süden Tunesiens fuhr und viel Zuspruch und positive | |
Reaktionen auf meine Rede für die Unterstützung von Frauenrechten erfuhr. | |
Doch nachdem die Frauen begeistert geklatscht hatten, rief ein Mann mit | |
langem Bart „Dreckige Kommunistin, Gottlose!“. Sofort wendeten sich die | |
Frauen von mir ab und bespuckten mich. | |
## Stolz, ein Mädchen zu sein | |
Genauso reagierte ein Mann im Flüchtlingslager in Augsburg: Er fühlte sich | |
wohl in seiner Männlichkeit durch mich bedroht, weil ich über meine | |
journalistischen Erfahrungen erzählte und vom Leiden der Frauen in einer so | |
männlich dominierten Gesellschaft. Der Mann erhob seine Stimme in dem | |
stillen Raum und forderte mich auf: „Geh in deine Küche und erfüll deine | |
Pflichten!“ | |
Nicht was er gesagt hatte, tat mir da weh, sondern die Tränen des kleinen | |
Mädchens, das neben mir stand. Bevor er mich beleidigte, hörte sie mir zu | |
und lächelte; ich merkte, wie stolz sie war, ein Mädchen zu sein. Nachdem | |
er mich beleidigt hatte, sah ich nur noch ihre tränenvollen Augen, in denen | |
tiefe Traurigkeit und Scham lag. | |
Für ein paar Minuten konnte ich nicht sprechen, mich nicht bewegen. Ich | |
wünschte, ich hätte ihn geschlagen, denn er hat mit seinen schlechten | |
Worten zerstört, was ich aufgebaut habe. Einer wie er beflügelt nicht, | |
sondern macht alles bitter. Aber das kleine Mädchen, das mir zuhörte und | |
seine Augen nicht von mir nahm, weinte und mir dann ihre Hand mit einer | |
Blume entgegenstreckte, nährt mein Vertrauen in die Zukunft doch. | |
Aus dem Englischen übersetzt von Julia Schnatz | |
1 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Najet Adouani | |
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