# taz.de -- Andreas Spechtls Album „Sleep“: Schläfrig im Spätkapitalismus | |
> „Sleep“ heißt das Solo-Debüt von Andreas Spechtl. Man kennt ihn als | |
> Sänger der Band „Ja, Panik“ und Musikpartner von Christiane Rösinger. | |
Bild: Andreas Spechtl übt ausnahmsweise keine Gesellschaftskritik. | |
Wie ein Kindermädchen auf LSD: Das andalusische Wiegenlied, das Andreas | |
Spechtl in den Track „Duérmete Niño“ gemischt hat, strahlt etwas | |
Gespenstisches aus. Dann schält sich aus Geknister ein schleppender Groove | |
heraus – bis zum Ende des Tracks die gepitchte Stimme erneut durch den Song | |
geistert: Man ahnt die einlullende Wirkung, die das Schlaflied im richtigen | |
Tempo entfalten würde. | |
Doch beschleunigt schwingt etwas Irres, Unheimliches mit – eine Ambivalenz, | |
wie sie uns in den Welten, in die wir des Nachts abtauchen, oftmals | |
begegnet. Auf Spechtls Solodebütalbum geht es um den Schlaf in vielen | |
Facetten. Nicht nur trägt das erste Album, das der Frontmann der | |
österreichisch-berlinerischen Diskursband Ja, Panik allein veröffentlicht, | |
den Titel „Sleep“. Spechtl hat das ganze Projekt nach seiner | |
Lieblingsbeschäftigung benannt. | |
Das Ergebnis sind folkig-psychedelische Soundskizzen, für die der | |
31-Jährige Feldaufnahmen verarbeitet hat, gesammelt bei Spaziergängen durch | |
Berlin und auf Reisen. Der charakteristische Klang Neuköllns klingt da | |
ebenso an wie akustische Eindrücke von einer bekifften Fahrt auf einem | |
Motorradtaxi durchs ugandische Jinga in den frühen Morgenstunden. Manche | |
Feldaufnahme hat Spechtl sich auch ausgeliehen: Das „Duérmete Niño“-Sample | |
zum Beispiel nahm der Musikethnologe Alan Lomax in den fünfziger Jahren in | |
Spanien auf. Die Forscherlegende archivierte nicht nur das musikalische | |
Erbe der US-Südstaaten, sondern bereiste auch Europa. Spechtl bearbeitete | |
dessen Mitschnitt und passte den Beat seinem Track an – mit den | |
beschriebenen Folgen. | |
Schlaf existiert in einem seltsamen Spannungsfeld: Wir versinken in eine | |
bewusstseinsfreie Zeit, wenn wir einschlafen. Im Schlaf ist jeder mit sich | |
allein. Gleichzeitig verbindet uns wenig so sehr mit allen Menschen wie das | |
regelmäßig wiederkehrende Schlafbedürfnis. Schlaf ist zugleich privates | |
Bedürfnis und öffentliche Projektionsfläche. Obwohl er zentral für unser | |
Wohlergehen ist: Wer diesen Auszeiten Vorrang vor anderen Aktivitäten gibt | |
– ob nun im Arbeits- oder Freizeitkontext –, macht sich suspekt. | |
## Eine Parallelwelt | |
Schlaf wird zumindest in der westlichen Welt gern in einem Atemzug mit | |
Faulheit genannt. Auch weite Teile der Popkultur definieren sich eher über | |
das Fassbinder’sche Credo „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ als über | |
ein Interesse, diese bewusstseinsfreie Parallelwelt zu erforschen, so wie | |
Spechtl es tut. | |
Der New Yorker Kunsttheoretiker Jonathan Crary spitzte unser Verhältnis zum | |
Schlaf in seinem 2014 auf Deutsch erschienenen Pamphlet „24/7: Schlaflos im | |
Spätkapitalismus“ so zu, dass „Schlaf die kompromisslose Unterbrechung der | |
uns vom Kapitalismus geraubten Zeit“ ist. Ob man seinen teils steilen | |
Thesen folgen mag oder nicht – Schlaf scheint tatsächlich die einzige | |
verbliebene Zeit zu sein, in der nicht erwartet wird, dass der Mensch | |
währenddessen arbeitet oder konsumiert. | |
Crarys Thesen scheinen anschlussfähig an eine Befindlichkeit, die Ja, Panik | |
vielfach ausformuliert haben. Ausgeschrieben heißt etwa der Titel ihres | |
vorletzten Albums [1][“DMD KIU LIDT“] „Die Manifestation des Kapitalismus | |
in unserem Leben ist die Traurigkeit“. | |
## Im Halbschlaf driften | |
„Traurigkeit“ ließe sich an dieser Stelle mit „Müdigkeit“ ersetzen, d… | |
Nachklang wäre ähnlich. Doch an diesem Diskurshaken will Spechtl sein Album | |
„Sleep“ nicht aufhängen. Schließlich gehört er zu den Menschen, die keine | |
Macht der Welt davon abhält, regelmäßig acht Stunden zu schlafen. Beim | |
Interview in den Berliner Prinzessinnengärten betont der androgyne, in | |
Schwarz gekleidete Schlaks, wie intuitiv die Arbeit war, dass ihm die | |
Tracks „wie im Schlaf“ gekommen sind. Entstanden waren die Songfragmente | |
ohne konkrete Verwertungsabsicht. Beim Durchforsten seiner Festplatte | |
kristallisierte sich Schlaf als wiederkehrendes Thema heraus. Bei der | |
Arbeit an den Soundskizzen ging es ihm ausnahmsweise nicht um | |
Gesellschaftskritik. | |
Spechtl ist selbst erstaunt, dass er „erst jetzt, beim | |
Über-das-Album-Sprechen die Metaebene entdeckt, die in dem Thema steckt. So | |
habe ich das zunächst gar nicht gedacht.“ Seine Tracks haben etwas | |
Introspektives, sie driften durch Halbschlafwelten. Dabei interessieren ihn | |
die Widersprüche, die unseren Auszeiten stecken: „Einerseits ist Schlaf | |
kopflos und wenig beeinflussbar: ein Ort, an dem Alltagsthemen auf lustige, | |
absurde Weise verhandelt werden. Man schaltet ab und lässt den Schlaf | |
passieren. Gleichzeitig sind der Schlaf und Träume ein totales | |
Kopfprodukt.“ | |
Anders als beim Hypnagogic Pop, einer verwaschenen Spielart von Dreampop, | |
bei der Stimmen im Mix unter Sounds gepflügt werden, verfällt Spechtl bei | |
den textlastigeren Stücken bisweilen in einen deklamatorischen Modus – etwa | |
im Stück „After Dark“: „Germans, they get dangerous after dark / So watch | |
out in Dresden, München, Berlin, after dark“. Gemeint, so Spechtl, ist | |
nicht nur, dass die Nacht Raum für Schattenexistenzen bietet, sondern dass | |
es für manche Menschen in deutschen Städten nachts gefährlich sein kann – | |
und erinnert an die Diskussion um No-go-Areas während der Fußball-WM 2006. | |
Eigentlich wollte Spechtl ja ein Instrumentalalbum machen. „Doch ich habe | |
schnell gemerkt: Ich brauche die Texte, um mir selbst die Musik zu | |
erklären.“ Leider passen allzu prominent nach vorn gemischte Lyrics nicht | |
so recht zu den hierarchiefreien Gedanken- und Gefühlswelten im Schlaf. | |
Fast ist es, als engen Spechtls Texte die somnambulen Assoziationsräume des | |
Themas wieder ein, die die Klangskizzen aufgemacht haben. „Sleep“ | |
funktioniert in den Momenten am besten, in denen Worte keine Rolle spielen | |
oder schön sinnfrei daherkommen – eben im Traum. | |
19 Jul 2015 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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