| # taz.de -- Essay Kolonialismus in Namibia: Widersprüche deutscher Erinnerung | |
| > Deutschland ist stolz auf seine Erinnerungspolitik zum 2. Weltkrieg. Doch | |
| > der Umgang mit dem Genozid in Namibia ist beschämend. | |
| Bild: Namibia-Gedenken am Garnisonsfriedhof in Berlin. | |
| Der kritische Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das schonungslose | |
| Aufdecken der dunklen Seiten der eigenen Geschichte, gehörte zum | |
| Staatsverständnis Deutschlands nach 1945. Es war in vielerlei Hinsicht so | |
| etwas wie die Wiedereintrittskarte in den Kreis der ‚zivilisierten‘ | |
| Nationen nach den ungeheuerlichen Verbrechen des ‚Dritten Reiches‘. | |
| Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung ermöglichten es der | |
| deutschen Politik wie den einzelnen deutschen Bürgern den europäischen | |
| Nachbarn und insbesondere auch den jüdischen Opfern und ihren Nachkommen | |
| wieder ins Gesicht blicken zu können. In einem langwierigen Prozess wurde | |
| den nicht immer nur bereitwilligen Deutschen von ihren führenden Politikern | |
| die Notwendigkeit des Umdenkens, des Versöhnens und des um | |
| Verzeihung-Bittens eingebläut und vorgelebt. | |
| Einen Höhepunkt fand dies im berühmten Warschauer Kniefall Willy Brandts | |
| 1970 ebenso wie in der Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestags des | |
| Kriegsendes 1985, als er den 8. Mai zum Tag der Befreiung erklärte und | |
| nicht der Niederlage. Befreit worden waren die Deutschen damals auch von | |
| den unheilvollen Zügen ihrer Geschichte, mit denen man sich aufarbeitend | |
| auseinandersetzen musste, um deren Wiederholung zu verhindern. Folgerichtig | |
| wurde der Umzug der Hauptstadt nach Berlin nach der Wiedervereinigung auch | |
| begleitet von der Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas | |
| an zentraler Stelle. | |
| Diese Aufarbeitung wurde von den Opfern deutscher Aggression und deutschen | |
| Rassismus‘ auch deshalb angenommen, weil sie mit einem Gestus der | |
| Freiwilligkeit und der Nachhaltigkeit vorgebracht wurde, es sich dabei eben | |
| um keine ritualisierte Unterwerfung handelte, sondern um glaubwürdige | |
| Versicherung, die Verbrechen und Fehler eingesehen zu haben und sich ändern | |
| zu wollen. | |
| Damit ist Deutschland gut gefahren, hat sich nach Jahrzehnten der Arroganz | |
| und der Überheblichkeit, Anerkennung und Zuneigung sogar bei Menschen | |
| erworben, die unmittelbar unter deutschem Krieg und deutscher Besatzung | |
| gelitten hatten. | |
| ## Es war ein Genozid | |
| Ganz anders geht Deutschland mit seiner kolonialen Vergangenheit um. Es ist | |
| beschämend, dass es der deutschen Politik wie der breiten deutschen | |
| Öffentlichkeit nicht gelingt, einen ähnlich mutigen Schritt in Bezug auf | |
| Deutschlands koloniale Vergangenheit zu tun. Seit Jahren liegt die | |
| historische Evidenz auf dem Tisch, dass das Deutsche Reich im damaligen | |
| Südwestafrika, dem heutigen Namibia, den ersten Genozid des 20. | |
| Jahrhunderts verübte (1904-1908). | |
| Es ist bekannt, dass das deutsche Kolonialmilitär durch seine brutale | |
| Kriegsführung im Maji-Maji Krieg in Deutsch-Ostafrika (1905-1907), dem | |
| heutigen Tansania, Verantwortung für mehrere Hunderttausend Opfer trägt, | |
| und dass auf Grund der Entscheidung Paul von Lettow-Vorbecks, gegen den | |
| Befehl seines zivilen Vorgesetzten, die Kolonie zu verteidigen, im Ersten | |
| Weltkrieg über eine Million Menschen in Ostafrika ihr Leben verloren. | |
| Kein einziges offizielles Denkmal an zentraler Stelle erinnert jedoch in | |
| Deutschland an die Opfer von Krieg und Vertreibung in Afrika, an Genozid | |
| und den ersten Rassenstaat der deutschen Geschichte. Seit Jahren verweigern | |
| sich Bundesregierung, Bundestag und Bundespräsident in seltsamer Einigkeit | |
| der Anerkennung des Völkermordes in Namibia: Die nicht zu Unrecht mit Willy | |
| Brandts Kniefall verglichene Entschuldigung Heidemarie Wieczorek-Zeuls aus | |
| dem Jahre 2004 wurde nicht zum Anfangspunkt einer Aufarbeitung, sondern | |
| blieb eine Ausnahme. | |
| Ihre Worte, die Verbrechen von einst seien das, was heute als Genozid | |
| bezeichnet würde, wurden längst zurückgenommen von einer Bundesregierung, | |
| die argumentiert, die „brutale Niederschlagung des Aufstandes der | |
| Volksgruppen der Herero und Nama (…) kann nach Auffassung der | |
| Bundesregierung nicht nach den heute geltenden Regeln des humanitären | |
| Völkerrechts bewertet und daher auch nicht als Völkermord eingestuft | |
| werden“. Es ist kaum vorstellbar, eine deutsche Bundesregierung würde dies | |
| für den Holocaust erklären, nur weil die Genozidkonvention der UNO erst | |
| 1948 in Kraft trat. | |
| ## Die Türkei belehren | |
| Als es im April dieses Jahres jedoch darum ging, die Türkei darüber zu | |
| belehren, der Genozid an den Armeniern müsse anerkannt werden, war von der | |
| für sich selbst reklamierten Nichtanwendbarkeit nichts zu hören: „Was die | |
| Nachfahren der Opfer aber zu recht erwarten dürfen, ist die Anerkennung | |
| historischer Tatsachen und damit auch einer historischen Schuld“, erklärte | |
| Bundespräsident Gauck beim zentralen Gedenkgottesdienst in Berlin. | |
| Seit Montag dieser Woche klingen diese Worte hohl, als weder er noch ein | |
| hochrangiger Vertreter des Bundespräsidialamtes bereit waren, eine kleine | |
| aber hochrangige Delegation der Nama und Herero zu empfangen, die eine | |
| mittlerweile von mehr als 2000 Menschen unterschriebene Petition, darunter | |
| als Erstunterzeichner 150 namhafte Vertreter aus Wissenschaft, | |
| Zivilgesellschaft und im eingeschränkten Maße der Politik, übergeben | |
| wollten. Es war nicht das erste Mal, dass eine Delegation aus Namibia in | |
| Berlin einfach ignoriert wurde. | |
| Es ist beschämend, was sich das politische Deutschland in Bezug auf die | |
| Anerkennung rassistischer Verbrechen der Vergangenheit leistet. Es droht | |
| die Erfolgsgeschichte der deutschen Vergangenheitspolitik insgesamt in | |
| Frage zu stellen, wirft es doch die Frage auf, wie tiefgehend diese | |
| Bewältigung war, wenn das historisch völlig unstrittige Abschlachten bzw. | |
| Verrecken-Lassen von bis zu 80.000 Männern, Frauen und Kindern einfach | |
| ignoriert werden kann. | |
| Wie freiwillig war sie, wenn der erste deutsche Genozid einfach geleugnet | |
| werden kann, auch weil Deutschland diesen Krieg gewonnen hatte, und weil | |
| weder Herero und Nama noch Namibia insgesamt den nötigen politischen Druck | |
| aufbringen können? Und welche Botschaft sendet dies aus über das | |
| wiedervereinigte Deutschland, das seine Augen vor kolonialen Verbrechen | |
| einfach verschließt, während es gleichzeitig im Zentrum seiner Hauptstadt | |
| den Palast jener Dynastie wieder aufbauen lässt, die auch für die | |
| kolonialen Verbrechen steht; die kein Interesse an einem Denkmal für die | |
| Opfer des Kolonialismus hat, aber ein Humboldt-Forum errichtet, das vielen | |
| Kritikern einen kolonialen Blick auf die Welt fortzuschreiben scheint? | |
| ## Mehr als Aufarbeitung | |
| Und was bedeutet dies für eine deutsche Gesellschaft, in der der Anteil | |
| derer, deren Vorfahren aus einem anderen Land stammen, immer größer wird, | |
| und unter denen viele sind, die mit Kolonialismus ganz eigene Erfahrungen | |
| machten? Wie soll man diese Jugend für einen (selbst-)kritischen Umgang mit | |
| Geschichte und historischen Identitätskonstruktionen sensibilisieren, wenn | |
| ihre Erfahrung sie bestärkt, dass Mehrheitsdeutschland eine sehr selektive | |
| Aufarbeitung vergangener Verbrechen betreibt? | |
| Und wie kann man Rassismus in der deutschen Gegenwart bekämpfen, wenn es | |
| scheint, als würden die auf ihn zurückgehenden Exzesse in der Vergangenheit | |
| nicht ernst genommen – zumindest nicht so ernst genommen wie das Leid der | |
| Deutschen, das Flucht und Vertreibung sehr wohl als gedenkens- und | |
| erinnerungswert anerkennt? | |
| Es geht also um viel mehr als ‚nur‘ die Aufarbeitung von Ereignissen vor | |
| hundert Jahren, wenn das Bundespräsidialamt seine Tore verschlossen hält | |
| vor einer Delegation von Herero und Nama. Es geht auch um das | |
| Selbstverständnis Deutschlands und sein Verhältnis zur Geschichte. Und es | |
| geht letztendlich auch darum, ob Deutschland wirklich vorbildlich ist in | |
| seinem Umgang mit seiner Vergangenheit. Andere Staaten des Globalen Nordens | |
| dürften genau hinsehen, beim Thema Kolonialismus, und prüfen, welche | |
| Auswirkungen der deutsche Weg auch für sie selbst hat, im Guten wie im | |
| Schlechten. | |
| 9 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Zimmerer | |
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