# taz.de -- Massenmord in Ex-Jugoslawien: Auf ewig getrennt | |
> Vor zwanzig Jahren fand in Srebrenica das schlimmste Massaker seit 1945 | |
> statt. Das Motiv war Rache – und politisches Kalkül. | |
Bild: Ratko Mladić (links) und Radovan Karadzic 1995 in Bosnien-Herzegowina | |
Hinter dem Massaker stand wahrscheinlich ein politisches Kalkül. Es ist | |
aufgegangen. Den Namen der bosnischen Kleinstadt kennt fast jeder. Wir | |
kennen auch die Namen von Tausenden Opfern, können fast jede Stunde der | |
tagelangen Jagd- und Hinrichtungsaktion rekonstruieren. Nur bei der wohl | |
wichtigsten Frage tappen wir noch im Dunkeln: Warum ist es geschehen? | |
Tatsächlich gab es für den Massenmord einen plausiblen Grund – einen, der | |
dazu zwingt, über das unglückliche Nachkriegsland noch einmal neu | |
nachzudenken. | |
Niemand hatte im Sommer 1995 ein solches Jahrhundertverbrechen befürchtet. | |
Für die großen Vormärsche und Verschiebungen im vierten bosnischen | |
Kriegsjahr gab es ein festes Muster: Eine feindliche Armee nähert sich | |
einem Dorf oder einer Kleinstadt und schießt Granaten ab. Die verteidigende | |
Armee zieht sich zurück, kampflos oder nur mit symbolischem Widerstand. Die | |
Bevölkerung folgt ihren abziehenden Truppen in Panik. So war es erstmals im | |
November des Vorjahres in der Kleinstadt Kupres gewesen, und so war es im | |
Frühjahr auf dem Feld von Livno, im Dinarischen Gebirge und Anfang Mai in | |
Westslawonien. Der Feind kommt; als Erstes flüchtet die Armee, dann die | |
Bewohner. | |
Das Muster hatte seinen Sinn. Im Sommer 1994 hatten die USA, Russland, | |
Frankreich, Großbritannien und Deutschland einen neuen Friedensplan für das | |
Bürgerkriegsland vorgelegt. Alle Flüchtlinge – mehr als die Hälfte der | |
Bevölkerung – sollten zurückkehren dürfen. Bosnien-Herzegowina sollte | |
formal als Staat erhalten bleiben, künftig aber aus zwei „Einheiten“ | |
bestehen: aus der serbischen Republik Srpska und aus der „Föderation“ der | |
beiden anderen Nationen, der Muslime und der Kroaten. Dass der gemeinsame | |
Staat erhalten bleiben sollte, widersprach den Kriegszielen der Serben und | |
auch der Kroaten krass. Aber Slobodan Milošević in Belgrad und Franjo | |
Tudjman in Zagreb, die eigentlichen Kriegsherren in Bosnien, waren mit dem | |
Friedensplan einverstanden. | |
Dem Plan lag auch eine Karte bei. Danach sollten 51 Prozent des bosnischen | |
Territoriums zur Föderation gehören, 49 Prozent zu Srpska. Als der | |
Friedensplan erschien, hielten die Serben aber noch 72 Prozent des Landes. | |
Bis zum Frieden also würden sie noch weite Gebiete räumen müssen. | |
## Die Bevölkerung war schon geflüchtet | |
So geschah es auch. Allerdings zogen die Serben sich nicht offen zurück. | |
Kein Politiker, schon gar nicht der unbeliebte Präsident Radovan Karadžić, | |
hatte die Macht, den Bewohnern einer serbischen Stadt zu sagen: Zieht um! | |
Wir haben euren Ort in Verhandlungen abtreten müssen! Man ließ die | |
schmutzige Aufgabe von der feindlichen Armee erledigen. Seit November 1994 | |
glich eine unsichtbare Hand die Verhältnisse am Boden denen auf der | |
Landkarte des Friedensplans allmählich an. | |
Srebrenica, eine von drei muslimischen Enklaven in Ostbosnien, hätte nach | |
der Karte des Friedensplans an die Föderation fallen sollen. Den bosnischen | |
Serben war das ein Ärgernis, denn sie wollten für ihre Republik ein | |
möglichst geschlossenes Territorium. Für den Wunsch herrschte sogar in | |
Sarajevo Verständnis. In politischen Kreisen der bosnischen Muslime waren | |
immer wieder Andeutungen zu hören, man werde die Enklaven kaum halten | |
können. Entsprechend hegten die muslimischen Verteidiger von Srebrenica | |
gegen ihre Staatsführung in der Hauptstadt erhebliches – und wohl | |
berechtigtes - Misstrauen. | |
So war es keine große Überraschung, dass die Truppen des | |
bosnisch-serbischen Generalstabschefs Ratko Mladić am Morgen des 6. Juli | |
eine Offensive gegen Srebrenica begannen. Drei Tage hielt die Front. Als | |
Entsatz aus Sarajevo ausblieb, zog sich die Division der bosnischen Armee | |
in den Norden der Enklave zurück. Die Bevölkerung von Srebrenica, das mit | |
vielen Flüchtlingen überfüllt war, flüchtete sich in ein viel zu kleines | |
Camp der niederländischen Blauhelme. Am 11. Juli zog Mladić in das fast | |
menschenleere Srebrenica ein. | |
Bis hierher gehorchte alles dem bekannten Muster; dann nicht mehr. Die | |
serbischen Truppen setzten den flüchtenden Einwohnern von Srebrenica noch | |
nach, als sie am Nachmittag des 11. Juli sechs Kilometer weiter zum | |
Hauptquartier der Blauhelme zogen. Dort angekommen, verfrachteten sie | |
Frauen und Kinder in Busse und selektierten die waffenfähigen Männer aus. | |
Gleiches geschah mit einem weiteren Flüchtlingszug aus den Resten der | |
Armee-Division und vielen Zivilisten. Die Männer, aber auch viele | |
Jugendliche, wurden abgeführt, gefesselt, erschossen und in vorbereitete | |
Gräben geworfen. Es war eine geplante Mordaktion, typisch eher für die | |
Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg als für den bosnischen Krieg | |
mit seinen sporadischen Gefechten von Hügel zu Hügel und den wilden | |
Vertreibungen des Jahres 1992. | |
## Vertreibung allein reichte nicht | |
Warum wurden die Männer von Srebrenica ermordet und nicht einfach nur | |
vertrieben? In den zahlreichen Prozessen in Den Haag und vor dem Obersten | |
Gerichtshof hat die Frage kaum eine Rolle gespielt; das Augenmerk liegt | |
ganz auf den Befehlsstrukturen der bosnischen Armee. Hinter dem | |
Desinteresse darf man unausgesprochene Vorurteile vermuten. Es waren „die | |
Serben“, für andere „der Balkan“; das scheint Erklärung genug. | |
Die häufigste Deutung lautet: Es war Rache. Als die Enklave 1993 von der | |
Uno zur Schutzzone erklärt worden war, hatten sich die bosnischen Truppen | |
dort der Entmilitarisierung verweigert – was sich auch rechtfertigen ließ, | |
denn die UNO war nicht bereit, auch B zu sagen und Srebrenica mit eigenen | |
Truppen zu verteidigen. Aber bosnische Truppen hatten den Schutzstatus auch | |
einige Male dazu missbraucht, aus der Enklave auszubrechen und serbische | |
Dörfer zu überfallen. | |
Als Motiv für einzelne Täter scheidet Rache allerdings aus. Die | |
bosnisch-serbische Armee war straff geführt. Ihre Offiziere waren keine | |
wilden Tschetniks, sondern disziplinierte Soldaten. Sie hatten zu gehorchen | |
und taten das auch; nur bei der Exekution des Mordbefehls durften manche | |
ihrer Grausamkeit freien Lauf lassen. Wenn Rache der Grund war, dann kann | |
sie nur der persönliche Beweggrund des Oberbefehlshabers gewesen sein: des | |
Generalstabschefs Ratko Mladić. | |
Der Berufsoffizier gab sich tatsächlich ein Image als Bündel aus Energie | |
und Emotion. UNO-Offiziere fürchteten seine Ausbrüche. Bei den bosnischen | |
Serben war Mladić dagegen beliebt. Er gab das Frontschwein, die ehrliche | |
Haut, schlief neben seinen Landsern auf dem Feldbett, statt sich, wie die | |
windigen Politiker um den schwadronierenden Karadžić, zu bereichern und im | |
Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zu sonnen. Vor Journalisten und | |
Diplomaten vergaß Mladić nie zu erzählen, sein Vater sei, als er zwei Jahre | |
alt war, wahlweise von den kroatischen Ustascha oder von der deutschen | |
Wehrmacht getötet worden – was nach dem Zeugnis seiner Mutter beides nicht | |
stimmt. | |
## Mladić verhinderte ein geeintes Bosnien | |
In Wirklichkeit war Mladić nichts so sehr wie eben Politiker. Er verstand | |
es gut, seine politischen Motive hinter vorgetäuschten Emotionen zu | |
verstecken. „Authentizitätsdarsteller“ nennt Richard David Precht Politiker | |
dieses Typs. | |
Mladić war es gewesen, der in einer flammenden Rede vor dem Parlament einen | |
Friedensplan zu Fall brachte, dem die Abgeordneten fast schon zugestimmt | |
hatten. Dass er nicht der blindwütige und kompromissunfähige Radikale war, | |
bewies Mladić noch nach dem Fall von Srebrenica: Als die kroatische Armee | |
einige Wochen später kampflos das serbische Westbosnien einnahm, ließ er | |
sich in Belgrad angeblich die Nierensteine entfernen – um danach | |
zurückzukehren und seine „unfähigen“ Statthalter zu feuern. | |
Im Juli 1995 war der Krieg entschieden; alle wussten, dass er nicht mehr | |
lange dauern würde. Milošević, von dem die Armee der bosnischen Serben | |
völlig abhing war, hatte sich mit den Großmächten geeinigt. Nur eines | |
konnte Mladić noch tun: Sicherstellen, dass nie wieder ein gemeinsames | |
Bosnien entstehen würde. | |
Zwar hatten die internationalen Vermittler der Serbenrepublik Bestand und | |
Autonomie zugestanden. Zugleich hegten sie aber die realistische Hoffnung, | |
dass Bosnien nach dem Krieg wieder zusammenwachsen und die komplizierte | |
Verfassung sich irgendwann von selbst erledigen würde. Dass es anders kam, | |
liegt an Srebrenica. | |
Erst das monströse Verbrechen stempelte die Serben für die ganze Welt zum | |
moralischen Verlierer des Krieges. Die Erinnerung an das Massaker, die an | |
jedem Gedenktag wieder wach wird, treibt die bosnischen Serben in die | |
Defensive. Im gemeinsamen Bosnien wurden alle Ressourcen und alle Posten | |
stets nach ethnischem Schlüssel verteilt. In einem künftigen wäre es wieder | |
so. Nach Srebrenica wird die Zugehörigkeit zu einer Täternation so für | |
jeden einzelnen Serben zu einem handfesten Nachteil. Erst wegen Srebrenica | |
ist ein einiges Bosnien für die Serben wirklich zu einer ernsthaften | |
Drohung geworden. | |
Zwanzig Jahre nach dem Massaker von Srebrenica ist Bosnien noch immer ein | |
geteiltes Land. Wenn das das Kalkül des Ratko Mladić war, dann ist es | |
aufgegangen. | |
6 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Norbert Mappes-Niediek | |
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