# taz.de -- Ethnologin über Nationalmuseum Sarajevo: „Es ist politisch nicht… | |
> Marica Filipović ist Vizedirektorin des Nationalmuseums in Sarajaevo. Sie | |
> hofft auf dessen Wiedereröffnung im Oktober. | |
Bild: Sarajevo: Die Lebenskultur hat sich im Laufe der Jahre verändert. Wie, s… | |
taz: Frau Filipović, das Nationalmuseum von Bosnien und Herzegowina ist | |
seit 2012 geschlossen. Warum? | |
Marica Filipović: Offiziell geht es um die Finanzierung, tatsächlich ist | |
das Museum politisch schlicht nicht gewollt. Wir haben dieses „von Bosnien | |
und Herzegowina“ im Namen und sind eine gesamtstaatliche Institution, doch | |
Entscheidungen werden in Bosnien in den Entitäten getroffen. Dieses Problem | |
ist im Vertrag von Dayton, der das Land in die Republika Srpska und die | |
Bosnisch-Kroatische Föderation teilte, verankert. Die Situation hier am | |
Museum steht somit symbolisch für den Zustand des gesamten Landes. | |
Und in den Entitäten besteht kein Interesse an einem Nationalmuseum? | |
Genau. Ein gesamtstaatliches Kulturministerium existiert nicht und | |
stattdessen seit zehn Jahren ein merkwürdiges Ministry of Civil Affairs, | |
das aus 19 Ressorts besteht, von denen eines für Kultur zuständig ist. Für | |
uns eskalierte die Situation nach den Wahlen 2010. Zuerst war ein Jahr lang | |
keine gesamtstaatliche Regierung zustande gekommen. Ab 2011 stellte das | |
Ministry of Civil Affairs dann nur noch maximal 150.000 Euro pro | |
Kulturinstitution zur Verfügung, die zudem nur für konkrete Projekte, nicht | |
aber für Gehälter und Betriebskosten verwendet werden durften. Diese | |
Änderung war für uns der Todesstoß. Danach haben wir noch ein Jahr lang | |
geöffnet, bis wir am 4. Oktober 2012 – exakt 124 Jahre nach der Eröffnung | |
des Museums – den Eingang verbarrikadiert haben. | |
Auf den ersten Blick scheint Bosnien aber stolz auf sein historisches Erbe. | |
Ja, aber, wie gesagt, alles was heute in der Politik zählt, sind | |
Nationalität und Religion. Das Land ist ethnisch gesäubert, Dörfer und | |
Städte sind verlassen worden, andere sind um ein Vielfaches gewachsen. Es | |
hat sich so viel verändert, und wir als Volkskundler konnten nicht einmal | |
untersuchen oder dokumentieren, wie sich im und nach dem Krieg in Bosnien | |
und Herzegowina die Demografie, das soziale Miteinander und die | |
Lebenskultur verändert haben. Für die entsprechenden Projekte, die wir beim | |
Kulturministerium erfolgreich beantragen konnten, haben wir nur wenig Geld | |
bekommen, so dass unsere Untersuchungen auch nur von kurzer Dauer waren. | |
Wie reagierte die Bevölkerung auf die Schließung? | |
Viele Künstler und Intellektuelle weltweit und auch die Botschaften haben | |
uns inhaltlich und moralisch unterstützt, ebenso hat die Presse ausführlich | |
berichtet und es gab Demonstrationen. Die Bosnier lieben ihr Museum, sie | |
waren hier als Kinder und mit ihren Gästen und wissen genau, dass es ein | |
politisches Problem ist und es nicht an Geld mangelt. | |
Aber das Engagement ist eingebrochen. Warum? | |
Viele Menschen sind zermürbt und haben resigniert. Die Arbeitslosigkeit in | |
Bosnien liegt bei über 40 Prozent. Diesen Monat beispielsweise wurden keine | |
Renten gezahlt. Fabrikarbeiter erhalten zwar ihr Gehalt, aber keine Rente | |
und Krankenversicherung. Seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens ist das hier | |
die schlimmste Form von Kapitalismus und Imperialismus. Die zerstörten | |
Fabriken und Unternehmen wurden nach dem Krieg zu Spottpreisen verkauft, in | |
der Hoffnung auf neue Investitionen. Dafür aber gibt es heute keine soziale | |
Absicherung mehr. Der Zustand hier am Museum symbolisiert die Verfassung | |
des Landes: Die Gemeinschaft ist gespalten in religiös definierte | |
Nationalitäten, Superreiche und Bettelarme. Zu allem kommt die omnipräsente | |
Korruption, sei es bei der Jobsuche, beim Arzt, in den Behörden und der | |
Politik. | |
Obwohl Ihnen seit 2011 keine Gehälter mehr gezahlt werden, kommen Sie | |
dennoch in Ihr Museum? | |
Wären wir nicht hier, läge die Ausstellung vielleicht schon in Trümmern. | |
Das Wasser rann die Wände hinab und die Heizung funktionierte nicht. | |
Offenbar ist man sich in der Politik nicht bewusst, dass kein anderes | |
Museum in Bosnien über einen so wesentlichen und umfangreichen | |
archäologischen, volks- und naturkundlichen Bestand – und zwar aus allen | |
Teilen des Landes – verfügt. | |
Wovon leben Sie und die anderen Museumsmitarbeiter? | |
Das ist sehr unterschiedlich. Einige bearbeiten Aufträge für andere Museen. | |
Ich selber wurde lange Zeit von Verwandten und Kindern unterstützt und | |
hatte unter anderem ein großes Ausstellungsprojekt. Manche gehen malochen, | |
um ihre Familie zu ernähren. | |
Um wie viel Geld geht es denn? | |
Wir bräuchten pro Jahr etwa 700.000 bis 800.000 Euro. | |
Gibt es Hoffnungen auf eine baldige Wiedereröffnung? | |
Ja, durchaus. Der neue Minister des Ministry of Civil Affairs, Adil | |
Osmanović, versprach im Mai, das Problem zu lösen. Möglicherweise öffnen | |
wir noch im September oder Oktober wieder unsere Pforten für die | |
Öffentlichkeit. | |
Wie realistisch ist das? | |
Ich glaube, dass der Minister wirklich bemüht ist, doch sein Einfluss ist | |
beschränkt. | |
Was, wenn das Museum geschlossen bleibt? | |
… dann, vielleicht, wird das Nationalmuseum von Bosnien und Herzegowina für | |
immer seine Pforte schließen. Wir können hier nicht noch ein Jahr ohne | |
Gehalt ausharren und draufzahlen. Keiner weiß, was mit dem Museum und auch | |
mit der berühmten Haggadah geschieht, der Handlungsanweisung für den | |
Sederabend, den spanische Juden nach ihrer Vertreibung nach Bosnien | |
gebracht haben, sollte das Museum geschlossen bleiben. Wir fürchten jetzt | |
schon Plünderungen. | |
14 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Thomas Brock | |
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