| # taz.de -- Angriff auf kroatische Serben 1995: Der Geruch der Leere | |
| > Unser Autor war vor 20 Jahren in Kroatien. Aktuelle Bilder aus | |
| > Konfliktregionen lassen die (Sinnes-)Eindrücke bei ihm wieder aufleben. | |
| Bild: Serbische Staatsbürger Kroatiens flüchten vor der kroatischen Armee: Di… | |
| Ich trete durch den Türrahmen, und mir stockt der Atem. Als stülpte eine | |
| Geisterhand eine unsichtbare Plastiktüte in Mund und Nase. Darin warme, | |
| schwere Luft. Sie muss seit Tagen unbewegt hier im Raum stehen. | |
| Über die Nase gelangt die Luft in den Mund und auf die Zunge. Schmeckt | |
| süßlich und irgendwie ölig. Mit einem Hauch von verdorbenem Obst. Wie die | |
| Birne in der Williams-Christ-Flasche. Aber ohne Alkohol. Ranzig wie alte | |
| Butter. Abgestanden wie tagelang getragene Unterwäsche oder lange nicht | |
| gelüftetes Bettzeug. | |
| Dieser Geruch kommt mir, wenn ich Bilder aus den Kriegsgebieten Syriens, | |
| der Ostukraine oder Afrikas sehe. Nicht der nach Krieg. Der riecht ganz | |
| unterschiedlich, mal beißend nach Pulver, mal süßlich nach Blut, mal ätzend | |
| nach verwesendem Fleisch. Nachkrieg dagegen riecht für mich immer gleich: | |
| nach Menschen, die nicht mehr da sind. | |
| Kroatien im August 1995. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist nach vier | |
| Jahren fast vorbei. | |
| Wir sind ein Kamerateam des Fernsehens der UN-Friedensmission und sollen | |
| uns in dem Landesteil umsehen, der bis vor Kurzem „Serbische Republik | |
| Krajina“ hieß. 450.000 Menschen lebten hier, bis die kroatische Armee die | |
| Region am 4. August 1995 überrannte. Jetzt sind es noch zwischen 130.000 | |
| und 150.000. | |
| Die Luft war noch kühl, als wir früh am morgen in Zagreb losfuhren. Das | |
| Kriegsgebiet lag keine Stunde von der kroatischen Hauptstadt entfernt | |
| hinter dem Ortsende von Karlovac. | |
| Plötzlich ziehen bei 60 Stundenkilometern nicht mehr schmucke zweistöckige | |
| Häuser vorbei, sondern Ruinen voller Einschusslöcher und rußgeschwärzter | |
| Fensterrahmen ohne Scheiben. In manchen Dörfern sehen die Gebäude noch ganz | |
| brauchbar aus. In anderen wachsen Bäumen dort, wo früher das Dach war. | |
| ## Warm. Feucht. Und vor allem stickig | |
| Je näher wir den Bergen an der Grenze zu Bosnien kommen, desto kleiner | |
| werden die Siedlungen, die Pflanzen niedriger, das Zirpen der Grillen | |
| lauter. Menschen sehen wir nicht. Die Sonne steht hoch am strahlend blauen | |
| Himmel, ihr Licht ist gleißend. Irgendwo rechts liegt das Meer. | |
| Das Dorf liegt ein wenig abseits der Landstraße. Man muss ein paar hundert | |
| Meter über einen Schotterweg fahren, bis man die Gebäude sieht. Einige | |
| wirken weitgehend intakt, andere sind offensichtlich vor Kurzem | |
| ausgebrannt. Bei einigen ist nur das Dach beschädigt. | |
| Gekämpft wurde hier offensichtlich nicht. Trotzdem liegt vor vielen Häusern | |
| Glas. Wurden die Scheiben eingeschlagen oder hat das das Wetter erledigt? | |
| Die Vorhänge jedenfalls hat der Wind auf die Straßenseite geweht. Jetzt, da | |
| sich kein Lüftchen regt, hängen sie schlaff in den Fensterrahmen. | |
| Im Haus läuft sofort der Schweiß. Dabei ist es drinnen wahrscheinlich | |
| kühler als draußen. Fühlt sich aber nicht so an. Im Gegenteil. Warm. | |
| Feucht. Und vor allem stickig. Die Fliegen werden auf uns aufmerksam. | |
| Sind es Hunderte oder Tausende? Die meisten umschwirren den Esstisch und | |
| den Kühlschrank, dessen Tür halb geöffnet ist. Auf dem Boden davor die | |
| Umrisse einer längst getrockneten Lache. Milch? Kühlflüssigkeit? Beides? | |
| Auf dem Tisch vor dem geschlossenen Fenster – die Gardine ist grau-schwarz | |
| vor Fliegen und Fliegendreck – steht ein Teller, darauf etwas, das wohl mal | |
| eine Scheibe Brot war. Daneben eine niedrige, henkellose Tasse. Es ist noch | |
| ein Schluck türkischer Kaffee darin, darüber zieht sich eine grünliche | |
| Schicht Schimmel. | |
| Rechts davon steht ein Aschenbecher, darin eine halb gerauchte Zigarette. | |
| Der Raucher hat die Glut abgetrennt. Wie jemand, der später weiterrauchen | |
| will. Doch hier ist seit Wochen kein Mensch mehr gewesen. | |
| ## Sandwiches und Coca-Cola für fünf Mark | |
| An jenem Morgen im August 1995, an dem die Operation „Oluja“ (Sturm) | |
| begann, rückten kroatische Soldaten von mehreren Punkten gleichzeitig in | |
| das Drittel des kroatischen Staatsgebiets ein, das serbische Nationalisten | |
| vier Jahre zuvor unter ihre Kontrolle gebracht hatten. | |
| Die teilten den Einwohnern über Radio mit, sie sollten ihre Häuser für ein | |
| paar Stunden räumen und sich Richtung Bosnien zurückziehen, bis die | |
| Streitkräfte der Serbischen Republik Krajina das Terrain von Feinden | |
| gesäubert hatten. | |
| Doch dazu kam es nie. Der serbische Widerstand war nicht nur schwach, | |
| sondern auch schlecht koordiniert. Die Kroaten rückten schnell vor. Unter | |
| den Menschen, die in ihren Autos, auf Traktoren und Anhängern, Motor- und | |
| sogar Fahrrädern entlang der Straßen nahe der bosnischen Grenze auf weitere | |
| Anweisungen warteten, machte sich Panik breit. | |
| Niemand weiß, wer der Erste war, der den Motor anwarf und davonfuhr. Sicher | |
| ist, dass diejenigen der 180.000 bis 200.000 Flüchtenden, die auf ihrem Weg | |
| nach Bosnien über kroatisches Territorium flohen, mit Steinen empfangen | |
| wurden; auf dem Weg durch Bosnien gerieten die kilometerlangen | |
| Fahrzeugkolonnen unter Beschuss; Hunderte vor allem alte Menschen starben | |
| an Dehydrierung. | |
| An der Grenze des Mutterlandes aller Serben schließlich erwarteten die | |
| verängstigten, hungrigen, durstigen, in den Jahren der Herrschaft der | |
| serbischen Nationalisten verarmten Schwestern und Brüder aus der | |
| kroatischen Diaspora Landleute, die Sandwiches und Coca-Cola feilboten. Für | |
| fünf Mark pro Flasche und Portion. | |
| ## Nirgends bellt ein Hund | |
| Mir ist speiübel, als wir das Haus verlassen. Im Vergleich zur Luft drinnen | |
| ist die auf der Dorfstraße jetzt richtig angenehm. Ein Fensterladen bewegt | |
| sich wie von Geisterhand, als eine Brise für einen Moment einen Hauch von | |
| Frische bringt. | |
| Der Sommer neigt sich dem Ende zu, aber das merkt man nur nachts. Tagsüber | |
| ist es heiß, die Luft flimmert vor Hitze. | |
| Dazu zirpt es so laut, dass man die Unmengen von Fliegen, die überall im | |
| Dorf herumschwirren, erst hört, wenn die Grillen eine Pause einlegen. | |
| Zwischen den Häusern und Ställen haben sich Ameisenstraßen gebildet. Sicher | |
| gibt es auch Kakerlaken. | |
| Richtige Tiere sehen wir keine, nicht mal Mäuse, Ratten oder Katzen, die es | |
| doch eigentlich in jedem Dorf der Welt gibt. Nirgends bellt ein Hund. | |
| In den von Zäunen oder Mauern umgebenen Gärten hängt nur noch wenig Wäsche. | |
| Das meiste davon hat der Wind verteilt. Überall im Ort liegen Hemden, | |
| Unterhemden, Socken und Hosen herum. Vieles davon hat begonnen, sich mit | |
| Wänden, Autowracks, Traktoren und anderen Geräten, mit Baumstümpfen oder | |
| Zäunen zu merkwürdigen Skulpturen zu verbinden. | |
| Manche sehen aus wie Körperteile. Wie auf den Bildern aus den Orten im | |
| ukrainischen Donezkbecken, im syrischen Aleppo oder den Ländern Afrikas, in | |
| denen der Krieg tobt. | |
| ## Salzig. Frisch. Nach Leben. | |
| Zurück auf der Landstraße sehen wir Rauchwolken. In einem ebenfalls | |
| verlassenen Nachbardorf brennen, schwelen, rauchen einzelne Gebäude. Wer | |
| sie angezündet hat? | |
| Die einzigen Menschen, die wir sehen, fahren Autos mit kroatischen | |
| Kennzeichen und Anhängern, auf denen Waschmaschinen und Kühlschränke | |
| festgezurrt sind. Sie tragen grüne Kleider, die an Uniformen erinnern. Sind | |
| es Soldaten? Einheimische, die in ihren Häusern nach dem Rechten schauen? | |
| Plünderer? | |
| Als die ersten Palmen am Straßenrand auftauchen, wird es endlich kühler. Je | |
| näher wir dem Meer kommen, desto besser riecht die Luft. Salzig. Frisch. | |
| Nach Leben. | |
| 4 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Rüdiger Rossig | |
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| Ratko Mladić | |
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