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# taz.de -- Debatte Einwanderung aus dem Balkan: Nicht genug Leid?
> Flüchtlingen aus dem Balkan wird vorgeworfen, allein auf der Suche nach
> Wohlfahrt zu sein. Doch so einfach ist das nicht.
Bild: Begrenzter Platz: Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Hamburg-Wilhelm…
Natürlich sind die Menschen, die vom Balkan kommen, Flüchtlinge, die der
Armut und Perspektivlosigkeit entrinnen wollen. Doch diese Menschen einfach
als „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu diskriminieren, denen es nur darum geht,
unsere Sozialsysteme auszunutzen, wie es vor allem die bayerischen
Christsozialen behaupten, ist ungerecht.
Gerade jene in Deutschland, die keine Worte finden, um den Anschlägen auf
Flüchtlingsheimen entgegenzutreten, und wenig zur Aufklärung und Bestrafung
der Täter tun, wollen sich dem Phänomen der Flüchtlinge aus Europa nicht
wirklich stellen. Dabei haben wir als deutsche Gesellschaft Verantwortung
auch in Bezug auf diese europäische Region, sind wir doch wirtschaftlich
und politisch eng mit den Ländern dort verbunden.
Die Welle von Flüchtlingen aus dieser Region zeigt nämlich auch, welcher
politische Zündstoff nach wie vor in dieser Region lagert. Wir müssen
aufpassen, dass uns eines Tages nicht alles wieder um die Ohren fliegt. Der
jahrelang anhaltende Konflikt mit Griechenland hat leider den Blick auf die
gesamte Region verstellt. Darunter hat das Vermögen der Öffentlichkeit
gelitten, sich mit den anderen Gesellschaften des Balkans ernsthaft zu
befassen.
Kein Mensch will leichtfertig seine Heimat aufgeben, auch nicht die
Menschen aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro,
Kosovo und Albanien. Seit Aufhebung des Visazwangs in Bosnien und
Herzegowina, Mazedonien, Serbien und Montenegro ist es deshalb gar nicht zu
der befürchteten Völkerwanderung gekommen, die von vielen prognostiziert
worden war. Die Menschen wollen, wenn es geht, in ihrer Heimat bleiben.
## Tiefsitzender Anti-Zigeuner-Reflex
Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich bei dem Gros der
europäischen Flüchtlinge vor allem um Roma aus der gesamten Region und
Albaner aus dem Kosovo handelt. Selbst in den sonst kritischen Medien wird
sorgsam vermieden, die Volksgruppe der Roma überhaupt zu benennen. Dies
kann getrost als Anzeichen dafür gesehen werden, wie tief der
Anti-Zigeuner-Reflex in unserer Gesellschaft immer noch sitzt. Daran hat
auch die endlich stattgefundene Anerkennung der Verfolgung der Roma und
Sinti während des Nationalsozialismus, die in der Ermordung von
Hunderttausenden gipfelte, nichts geändert.
Mit dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens wurden die Menschenrechte
und die Würde der Romabevölkerung dort zunehmend verletzt. Das
sozialistische System in Jugoslawien hatte den Roma eine ernsthafte
Perspektive der Integration in die Gesellschaft geboten. Selbst in den
stalinistischen Systemen Bulgariens und Rumäniens ging es den Roma besser
als heute, obwohl beide Länder jetzt Mitglied in der Europäischen Union
sind.
Die tägliche Zurücksetzung und Benachteiligung der Roma in Bulgarien,
Rumänien und in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in Bezug auf den
Arbeitsmarkt, den Zugang zur Bildung und zum Gesundheitssystem gipfelt
sogar in tätlichen Übergriffen. Von „sicheren Herkunftsländern“ zu sprec…
klingt in den Ohren dieser Volksgruppe wie Hohn. Für die Roma bieten diese
Länder keine sichere „Heimat“ mehr.
Anders gelagert ist die Flucht von Albanern aus dem Kosovo. Obwohl in der
kosovarischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit 2008 deutliche
Fortschritte in Bezug auf Infrastruktur und Wirtschaft gemacht worden sind,
verlieren viele Kosovaren die Geduld. Denn die Gesellschaft ist jung, die
jüngste in Europa, sie ist tatendurstig und lernbegierig, die jungen
Menschen wollen ein normales europäisches Leben führen.
Bei einer Arbeitslosigkeit bis zu 70 Prozent jedoch ist dies nicht möglich.
Obwohl das Land sehr intensiv von Institutionen der internationalen
Gemeinschaft „betreut“ wird – es gibt ja neben der teuren und wenig
effektiven EU-Rechtsstaatsmission Eulex noch die Kfor-Truppen im Land –,
sperrt sich das Europa der EU, den Visazwang für die Kosovaren aufzuheben.
## Win-Win-Situation
Der Deckel Visazwang führte zum Überdruck, Zehntausende machten sich auf
den illegalen Weg nach Westeuropa. Geschäftstüchtige Schlepper taten ein
Übriges, die Menschen mit falschen Informationen auf den Weg zu locken. Die
Welle ist zwar etwas abgeebbt, doch das Problem bleibt.
Die Institutionen der internationalen Gemeinschaft im Kosovo haben es nicht
vermocht, gemeinsam mit der Regierung eine Entwicklungstrategie für das
Land zu entwerfen. Dabei gibt es ernsthafte Vorschläge. Warum sollten die
sprachbegabten kosovarischen Studenten nicht schon an den Universitäten im
Kosovo in Studiengänge geführt werden, die dem Bedarf unserer Wirtschaft
entsprechen? Warum nicht Fachkräfte dort ausbilden und ihnen damit eine
realistische Perspektive für die Einwanderung in die Staaten Westeuropas zu
geben?
Solche Modelle könnten auch in Bosnien oder in den anderen Staaten des
Westbalkan durchgesetzt werden. Sie bildeten ein Ventil, das viel Energie
freisetzen könnte. Das wäre eine Win-win-Situation.
Wenn man über ein Einwanderungsgesetz jetzt ernsthaft diskutieren will,
dann sollten diese Vorschläge, die in der GIZ und anderen Institutionen
Unterstützung finden, endlich ernst genommen werden. Zweifellos, die
Einwanderung braucht einen geordneten Rahmen.
Im Fall der Roma sind zwar in der EU Konventionen verabschiedet worden, an
der Lage dieser Bevölkerungsgruppe jedoch hat sich wenig geändert. Es geht
nicht an, einfach Gelder für die Roma, für deren Ausbildung, Qualifikation
und Arbeitsbeschaffung, an die Balkanländer zu übergeben, die dann
schließlich von korrupten Bürokratien aufgesogen werden. Man muss von
Seiten der EU und Deutschlands darauf achten, dass diese Gelder für diese
Zwecke verwendet werden. Ob durch eine neue Agentur oder über Projekte von
NGOs – die bisherige Praxis jedenfalls führte nicht zum Erfolg.
Zäune zu bauen, wie es jetzt die Ungarn tun, und Aggressionen zu schüren,
wie dies auch manche Politiker bei uns nicht unterlassen können, ist nicht
nur abscheulich und menschenunwürdig. Diese Politik führt in die Irre und
löst keines der Probleme.
29 Jul 2015
## AUTOREN
Erich Rathfelder
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