| # taz.de -- Debatte 20 Jahre Srebrenica: Es war Faschismus | |
| > Solange die serbischen Eliten einer Aufarbeitung aus dem Weg gehen, wird | |
| > es keine Versöhnung geben. Zeit allein heilt nicht alle Wunden. | |
| Bild: Eine Frau neben einem Truck in Sarajevo, der 136 Särge neu identifiziert… | |
| Die Trauerfeiern in Srebrenica wurden in den letzten 15 Jahren zu einem | |
| Ritual. Die hohen Diplomaten und Politiker sprachen stets vom „größten | |
| Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“, wollen niemals vergessen | |
| und die Täter fassen. Doch es fehlte meist die Empathie, stattdessen klang | |
| es verlogen. Das Gros der Kriegsverbrecher wurde nicht verhaftet. | |
| Immerhin haben in diesem Jahr wenigstens die Briten dem Weltsicherheitsrat | |
| der Vereinten Nationen eine Resolution vorgelegt, die Ross und Reiter nennt | |
| und aufzeigt, wer für welche Tat die Verantwortung trägt. Der Aufschrei in | |
| Serbien und der serbischen Teilrepublik in Bosnien ist natürlich groß. Weil | |
| das Dokument den Massenmord an 8.372 bosniakischen Männern und Jugendlichen | |
| in Srebrenica als „Völkermord“ einstuft, verstehen die serbischen | |
| nationalistischen Eliten dies als Provokation. | |
| Die Reaktionen reichen von totaler Leugnung des Geschehens, der | |
| Rechtfertigung: „Hätten wir es nicht getan, dann hätten die uns | |
| umgebracht“, bis hin zu dem Versuch, die serbischen Opfer in der Region mit | |
| 3.500 Toten so hochzurechnen, dass man auf eine ähnliche Dimension wie bei | |
| den Bosniaken kommt. Die serbischen Eliten wollen sich nicht mit der | |
| Wirklichkeit konfrontieren. Würden sie es tun, würde die den serbischen | |
| Nationalismus konstituierende Ideologie, immer nur Opfer der Geschichte zu | |
| sein, nicht weiter aufrechterhalten werden können. | |
| Die volle Wahrheit anzuerkennen, wie dies bisher nur isolierte, aber mutige | |
| serbische Intellektuelle tun, bedeutete zudem, die Frage der Kriegsschuld | |
| neu aufzuwerfen. So versucht man alles, den Verbündeten Russland dazu zu | |
| verpflichten, die britische Resolution im Weltsicherheitsrat mit dem | |
| russischen Veto zu Fall zu bringen. Um gleichzeitig die | |
| Beitrittsverhandlungen mit der EU nicht zu gefährden, [1][will der | |
| Premierminister Vučić persönlich am Samstag nach Srebrenica kommen], um | |
| sich „vor den Opfern zu verbeugen“. | |
| Gräbt man aber etwas tiefer in der Geschichte des Bosnienkrieges, stehen | |
| die Serben mit diesem Eiertanz nicht ganz so allein. Die britische Rolle im | |
| Rahmen der UN-Mission während des Krieges ist nach wie vor fragwürdig. Eine | |
| selbstkritische Betrachtung müsste benennen, dass Großbritannien gemeinsam | |
| mit Frankreich und Russland direkt und indirekt die serbische Seite im | |
| Krieg unterstützt haben. Briten und Franzosen bestanden auf dem | |
| Waffenembargo gegenüber den Verteidigern – die Angreifer verfügten über | |
| genug Waffen und Waffenproduktion. | |
| ## Schuld der Internationalen | |
| Die Briten waren es, die durchsetzten, dass ab 1993 in der internationalen | |
| Sprachregelung nicht mehr von einer Aggression Serbiens gegen Bosnien | |
| gesprochen wurde, sondern von einem Bürgerkrieg. Und sie waren führend | |
| beteiligt bei der Verhinderung eines Bombenangriffs durch die Nato auf die | |
| vorrückenden serbischen Truppen in Srebrenica. | |
| Immerhin symbolisiert der britische Vorstoß, dass die jetzt führenden | |
| Politiker und Diplomaten in Europa und den USA bereit sind, über die | |
| eigenen Schuldzusammenhänge in der damaligen internationalen Gemeinschaft | |
| zu sprechen. Zwar werden die wichtigsten Dokumente, die zur weiteren | |
| Aufklärung der Vorgänge von damals beitragen könnten, immer noch | |
| zurückgehalten – sowohl die USA als auch Frankreich und Großbritannien, die | |
| Niederlande und die UNO halten sie weitgehend unter Verschluss. | |
| Doch man hat schon jetzt Beweise genug: Alle in Bosnien und Herzegowina | |
| beteiligten Mächte und die UNO haben im Vorfeld des Genozids von Srebrenica | |
| Schuld auf sich geladen, weil sie um des „Friedens“ willen einen Kompromiss | |
| mit den Kriegstreibern und Mördern angestrebt haben. | |
| Die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titoregime wiedererstandene | |
| tolerante, multireligiöse, bis in die Familien hinein gemischte | |
| Gesellschaft auseinanderzureißen, war das erklärte Ziel der serbischen, | |
| aber auch der kroatischen Nationalisten. Beide Seiten sahen in dem | |
| „Jugoslawien im Kleinen“ ein Hindernis für die Etablierung und | |
| territorialen Expansion ihrer Art von „Nationalstaat“. Mit dem | |
| Dayton-Abkommen 1995 wurden die serbischen Extremisten sogar noch mit der | |
| Hälfte des Landes belohnt. | |
| Ein tolerantes, multinationales Bosnien durfte nicht bestehen bleiben. Ein | |
| Verbrechen von der Dimension Srebrenicas kann nur geschehen, wenn die Opfer | |
| als „Untermenschen“, als unwertes Leben definiert werden, die im Namen | |
| einer „höherwertigen Nation“ zu eliminieren sind. Das ist passiert. Das ist | |
| Faschismus. | |
| ## Multireligiöse Tradition lebt | |
| Diese Erkenntnis darf man der serbischen Öffentlichkeit nicht ersparen. | |
| Dass ausgerechnet in Sarajevo mit seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit | |
| die Zukunft eines modernen, weltoffenen Europas verteidigt wurde, sollte | |
| endlich in der europäischen Öffentlichkeit akzeptiert werden. Mit dem | |
| letzten Krieg wurde Bosnien und Herzegowina zwar in von nationalistischen | |
| und korrupten Eliten dominierte Stücke gerissen. Doch die jahrhundertelange | |
| Tradition ist nicht völlig unterzukriegen. | |
| In den ehemals von den bosniakischen Verteidigern kontrollierten Gebieten – | |
| so in Tuzla und Sarajevo – ist multinationales Leben nach wie vor möglich. | |
| Selbst in der serbischen Teilrepublik beginnen die Jugendlichen die Eltern | |
| mit Fragen über die Vergangenheit zu löchern, stellen Intellektuelle und | |
| Menschenrechtler den nationalen Konsens in Frage. Die Zeit heilt nicht alle | |
| Wunden. | |
| Es ist den muslimischen Bosniaken hoch anzurechnen, dass es nach dem Krieg | |
| zu keinerlei Racheakten kam. Die Opfer zeigen keinen Hass. Doch die | |
| Enttäuschung über die internationale Politik und die Erfahrungen des | |
| Genozids haben bei großen Teilen dieser Bevölkerungsgruppe zu Abgrenzungen | |
| gegenüber den „Christen“ geführt. Versöhnungsappelle, wie im britischen | |
| Dokument enthalten, laufen ins Leere. | |
| Eine wirkliche Versöhnung ist erst möglich, wenn die serbische Gesellschaft | |
| insgesamt bereit ist, eine Katharsis zu durchlaufen. Die Frage, will | |
| Serbien wirklich in die EU oder sieht es die Zukunft an der Seite | |
| Russlands, ist noch nicht beantwortet. An der Seite Moskaus muss die | |
| serbische Gesellschaft sich nicht verändern, an der Seite Europas schon. | |
| 10 Jul 2015 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
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