| # taz.de -- Kommentar UNO und Libyen: Einer muss den Job ja machen | |
| > Die Türkei, Südafrika, Brasilien, Indien, Ägypten, Tunesien – all diese | |
| > Staaten wären berufen gewesen, an der Seite der Aufständischen in Libyen | |
| > einzugreifen. Die USA tun es. | |
| Der Tyrann ist gestürzt, der Krieg ist vorbei, die Revolution hat gesiegt – | |
| das jedenfalls musste glauben, wer in der Nacht auf Freitag im | |
| Nachrichtensender al-Jazeera – wo sonst? – verfolgte, wie die Menschen auf | |
| dem "Platz der Märtyrer" in Bengasi die UN-Resolution feierten. Dabei ist | |
| diese Resolution längst keine Garantie, dass der Tyrannensturz gelingen | |
| wird. Sie gibt den Menschen nur die schon verloren geglaubte Hoffnung | |
| zurück. | |
| Und vielleicht gibt sie auch der westlichen Welt (oder einem Teil von ihr) | |
| ein wenig credibility zurück. Denn nach der peinlichen Figur, die der | |
| Westen bei den Revolutionen in Tunesien und Ägypten abgegeben hatte – | |
| besonders unrühmlich: Frankreichs Treue zum tunesischen Machthaber Zine | |
| el-Abidine Ben Ali und das Festhalten der USA am ägyptischen Präsidenten | |
| Hosni Mubarak – drohte er mit seiner Zögerlichkeit in Sachen Libyen | |
| endgültig die historische Chance zu verpassen, die der demokratische | |
| Aufbruch in der arabischen Welt bietet. Immerhin ist sie jetzt da, die | |
| Resolution, die willige Staaten zum Eingreifen legitimiert, und besser sie | |
| kommt spät als nie. | |
| Und noch vor zwei, drei Wochen, vor Beginn von Gaddafis Gegenoffensive, | |
| wäre sie vielleicht ausreichend gewesen. Denn schon damals war klar, dass | |
| sich Gaddafi nicht einfach auf eine venezolanische Hacienda zurückziehen | |
| würde. Vor zwei, drei Wochen hätte eine solche Resolution womöglich den | |
| Zerfall beschleunigt, den Gaddafis Machtapparat in den ersten Wochen des | |
| Aufstands an Tag gelegt hatte. | |
| Vor zwei, drei Wochen hätte es vielleicht gereicht, durch die Einrichtung | |
| einer Flugverbotszone für eine gewisse Chancengleichheit zu sorgen – und | |
| den Rest den Aufständischen zu überlassen. Und schließlich: Vor zwei, drei | |
| Wochen hätte eine solche Resolution wohl dazu beigetragen, das | |
| Blutvergießen zu verringern. | |
| Jetzt aber ist die Lage eine andere. Nicht die Aufständischen stehen vor | |
| Gaddafis Hauptstadt Tripolis, vielmehr haben sich dessen Truppen | |
| reorganisiert und stehen vor kurz vor dem Angriff auf die | |
| Rebellenhauptstadt Bengasi. Seit Donnerstagnacht wissen sie, dass sie keine | |
| Zeit haben – weshalb auch die Anti-Gaddafi-Allianz keine Zeit hat. Und es | |
| wird vermutlich nicht reichen, Gaddafis Luftwaffe und Luftabwehr | |
| auszuschalten; die wichtigste Waffe der Regierungstruppen ist die schwere | |
| Artillerie, der die Aufständischen kaum etwas entgegenzusetzen haben. Wer | |
| die Menschen in Bengasi schützen und den Aufständischen helfen will, wird | |
| sich dieser Artillerie widmen müssen. | |
| ## | |
| Aber es nicht allein der Westen, der in Sachen Libyen eine Chance zu | |
| verpassen drohte – und vielleicht, das wird sich zeigen, auch verpasst hat. | |
| Mindestens genauso so groß ist das Versagen jener Staaten, die in den | |
| vergangenen Jahren im Einklang mit ihrer gewachsenen weltwirtschaftlichen | |
| Bedeutung auch weltpolitische Ambitionen angemeldet hatten. | |
| Die Rede ist nicht von China oder Russland – ihre Zustimmung wäre ein | |
| schlechter Witz gewesen; nicht dazu geeignet, die UN-Resolution zusätzlich | |
| zu legitimieren. Das hätte sie eher diskreditiert. Die Rede ist auch nicht | |
| von den meisten Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga, die die UN dazu | |
| aufgerufen hatte, eine Flugverbotszone zu verhängen. | |
| Denn deren Zustimmung mag zwar dazu beitragen, dass eine Intervention nicht | |
| so leicht als neuer "Kreuzzug des Westens gegen den Islam" oder als | |
| "imperialistischer Krieg für Öl" oder beides auf einmal verfemt werden | |
| kann. Doch so begrüßenswert das Auftreten des Libanons war, so unfreiwillig | |
| komisch ist es, wenn die Demokratie in Libyen mithilfe Bahrains und | |
| Saudi-Arabiens einziehen soll. | |
| Nein, die Rede ist von anderen. Von der Türkei zum Beispiel, die sich noch | |
| während der Revolution in Ägypten gar nicht oft genug als role model für | |
| die arabische Welt ins Gespräch bringen konnte. Doch obwohl Sprecher der | |
| libyschen Aufständischen immer wieder namentlich die Türkei um Hilfe | |
| gebeten haben, fiel Ministerpräsident Rece Tayyip Erdogan dazu nicht ein, | |
| als ein Ende des "Bruderkrieges" zu fordern. | |
| Die Rede ist weiter von Südafrika, das zwar nach langem Zögern am Ende für | |
| die Resolution stimmte, dessen Präsident Jacob Zuma aber noch in der | |
| vergangenen Woche Gaddafi anrief, um sich dessen Sicht der Dinge anzuhören, | |
| anstatt sich, dem eigenen Anspruch als führende Nation Afrikas gerecht | |
| werdend, an die Spitze einer internationalen Anti-Gaddafi-Allianz zu | |
| stellen. | |
| ## | |
| Die Rede ist ferner von den Nachbarländern Ägypten und Tunesien. Zwar | |
| wehten in jener Nacht auf dem "Platz der Märtyrer" in Bengasi neben | |
| unzähligen libyschen Fahnen auch viele ägyptische. Doch eingedenk des | |
| Aufstands in Libyen wurde offenbar, dass in beiden Ländern eben (noch) | |
| nicht die Revolutionäre die exekutive Macht übernommen haben. Selbst wenn | |
| Ägypten und Tunesien die Aufständischen unter der Hand unterstützt haben, | |
| haben sie es doch versäumt, die politische Initiative zu übernehmen. | |
| Die Rede ist schließlich von Indien, der laut Eigenwerbung "größten | |
| Demokratie der Welt", die sich im UN-Sicherheitsrat ebenso der Stimme | |
| enthielt wie das Brasilien Lulas und Dilmas – und so dafür sorgte, dass die | |
| Resolution nur dank der Zustimmung von Ländern mit zweifelhaftem Leumund | |
| wie Gabun, Nigeria und Kolumbien zustande kam. | |
| Die Türkei, Südafrika, Ägypten, Tunesien, Brasilien, Indien – all diese | |
| Staaten wären dazu berufen gewesen, an der Seite der Aufständischen in | |
| Libyen zu intervenieren. Vielleicht hätte es militärisch nicht ausgereicht, | |
| aber wenigstens die politische Führung hätten sie übernehmen können. Eine | |
| solche Allianz hätte nicht im Verdacht gestanden, an eine imperiale | |
| Vergangenheit anzuknüpfen, und ihre Mitglieder wären glaubwürdig genug | |
| gewesen, um die Aufgabe zu übernehmen, die Frankreich und Großbritannien | |
| übernommen haben. | |
| Über den konkreten Fall hinaus hätte man gezeigt, dass die Schwellenländer | |
| tatsächlich an Bedeutung gewonnen haben – und dazu bereit sind, | |
| Verantwortung zu übernehmen. Sie hätten bewiesen, dass ihr Anspruch auf | |
| einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat mehr ist als das Getue von | |
| Parvenüs. | |
| Ja, so hätte es kommen können und es wäre wohl besser so gewesen. Allein: | |
| Die genannten Länder wollten nicht, und sie wollten es wohl aus | |
| unterschiedlichen Gründen nicht. Aber deshalb verdienen denjenigen, die die | |
| Aufgabe wohl übernehmen werden, alle Glückwünsche – auch die USA, die sich | |
| lange zierte, in einem dritten islamischen Land in einen Krieg verwickelt | |
| zu werden. Aber einer muss den Job ja machen, wenn es sonst keiner tut. | |
| Und Deutschland? Das ist in diesem Zusammenhang nicht so wichtig, die | |
| deutsche Stimmenthaltung ist weniger von weltpolitischem als mehr von | |
| stilistischem Interesse: "Die Herrschaft des Muammar al-Gaddafi ist | |
| vorbei", rief der deutsche UN-Botschafter Peter Wittig – nachdem er sich | |
| der Stimme enthalten hatte. Wer so redet, muss entsprechend handeln; wer | |
| das nicht will, sollte wenigstens die Klappe halten. Denn noch anstößiger | |
| als Untätigkeit ist Maulheldentum. | |
| 18 Mar 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Deniz Yücel | |
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