| # taz.de -- Debatte Arabische Revolutionen: Revolutionen blühen nicht | |
| > Nun verlieren auch freudige Beobachter des Arabischen Frühlings die | |
| > Geduld mit den harten Kämpfen für Demokratie. Warum nur? | |
| Bild: In Ägypten ging die Revolution so schön schnell: Tahrirplatz im Februar… | |
| So haben wir uns das nicht vorgestellt, mit dem arabischen Frühling. Kaum | |
| gibt es Wahlen in Tunesien und Ägypten gewinnen die Islamisten. Libyen ist | |
| vom Frieden weit entfernt und in Syrien werden die Kämpfe immer brutaler. | |
| Und auch wenn Ben Ali und Hosni Mubarak von freiheitswilligen Ägyptern und | |
| Tunesiern weggefegt wurden, die Wirtschaft haben die Proteste in allen | |
| betroffenen Ländern gleich mit erledigt. | |
| Ernüchterung, ja Unwillen macht sich breit. Es war ja auch ein bisschen | |
| unsere Revolution. Immerhin haben wir das Bild vom Araber, neudeutsch | |
| Muslim, als potenziellen Terroristen revidiert oder zumindest relativiert, | |
| haben zehn Jahre nach 9/11 unser bis dahin beliebtestes Feindbild wieder | |
| eingepackt und der arabischen Straße applaudiert. Wir waren offen. Und nun? | |
| Nun muss man schleunigst anfangen, für die sehr unterschiedlichen Protest- | |
| und Demokratiebewegungen in den sehr unterschiedlich verfassten Ländern in | |
| Nordafrika und im Nahen Osten einen stärker analytischen Zugang und damit | |
| eine von Naturbildern entschlackte Sprache zu finden. | |
| Wer den Protestierenden in Kairo oder Tunis von Ferne zugejubelt hat, jetzt | |
| aber enttäuscht das Interesse für die schwierigen und in jeder Richtung | |
| offenen Aushandlungen auf der Ebene verliert, unterschätzt, dass | |
| demokratische Wahlen und gar ein Rechtsstaat überall auf der Welt ein hart | |
| erkämpftes Gut waren und sind. Mit Photosynthese, mit Blühen und Verblühen | |
| hat das nichts zu tun, aber auch gar nichts. Das neuerdings häufiger | |
| verwandte Label "arabischer Herbst" taugt nicht. | |
| ## Das Feindbild hat sich überholt | |
| Die schnelle Ermüdung der Beobachter im fernen Ausland - die Diktatoren in | |
| Tunesien und Ägypten wurden gerade mal vor einem Jahr abgesetzt - zeigt | |
| somit vor allem: Das Feindbild vom Araber als Terroristen ist zwar gut zehn | |
| Jahre nach 9/11 nicht mehr zeitgemäß. | |
| Doch das Klischee vom "Araber an und für sich", es sitzt noch fest in | |
| unseren Köpfen. Zum besseren Verständnis, was die hiesige Wahrnehmung | |
| trübt, hilft es, das gute alte Standardwerk von Edward Said "Orientalismus" | |
| hervorzukramen. | |
| Laut Said repräsentiert "der Orientale" im westlichen Weltbild das ewige | |
| Andere, mithin den absoluten Gegensatz zum Abendländler. Diese im Zuge des | |
| Kolonialismus sehr populäre Ideologie zeichnet den Morgenländler als | |
| unveränderbar defizitär, als grundlegend irrational und entsprechend | |
| unberechenbar. | |
| Will man trotz dieser über gesellschaftliche Verhältnisse erhabenen | |
| Mentalität des Orientalen Stabilität, muss man ihn vom aufgeklärten | |
| Nichtorientalen, also vom Westler oder zumindest einem seiner Statthalter | |
| beherrschen lassen. | |
| ## Ausgerechnet die USA | |
| Auch heute noch wird "der Westen" häufig pauschal gegen "die arabische | |
| Welt" gesetzt. Unter der Hand verklärt diese Herangehensweise das | |
| zerstrittene Europa zu einer rationalen Einheit und lässt die kulturellen | |
| wie politischen Differenzen intern sowie zwischen den USA und Europa in den | |
| Hintergrund treten. Interessenskonflikte sind dann kein Thema mehr, sie | |
| werden "dethematisiert". Wie entlastend! | |
| Just diese mehr oder weniger bewusste Entlastungssehnsucht speist auch den | |
| bei Lichte betrachtet so abwegigen Ansatz, hoch ambivalente und politisch | |
| und militärisch umkämpfte Übergangsprozesse von einer Jahrzehnte währenden | |
| Diktatur zur Demokratie als Naturereignis, als Frühling oder Herbst zu | |
| beschreiben. | |
| Erfreulicherweise hält ausgerechnet die US-amerikanische Außenpolitik gegen | |
| diesen Trend. So konservativ sie zunächst auf die Aufstände gerade in | |
| Ägypten reagierte, jetzt signalisiert sie Bereitschaft, die Wahlergebnisse | |
| anzuerkennen und schickte im vergangenen Dezember den US-Senator John Keyne | |
| nach Kairo, um mit Vertretern der Muslimbrüder ins Gespräch zu kommen. | |
| Demokratie und Islam(ismus) werden offenbar nicht mehr als unversöhnliche | |
| Gegensätze gehandelt. Dieser außenpolitische Schwenk ist nicht zu | |
| unterschätzen. | |
| Doch auch er ist keine Garantie dafür, dass demnächst belastbare | |
| Demokratien in Ägypten, Tunesien, gar im Jemen, in Libyen oder Syrien | |
| vorzufinden sein werden. Genauso wenig aber sind länger andauernde Kämpfe | |
| und soziale Turbulenzen Beweis dafür, dass Demokratie in diesen Ländern | |
| unmöglich ist. Erinnern wir uns kurz daran, wie lange die Deutschen | |
| brauchten, um sich zu entnazifizieren und ihre Vergangenheit aufzuarbeiten | |
| - trotz der massiven finanziellen und logistischen Hilfe von außen. Oder | |
| wie lange es gedauert hat, bis die zumindest im Vergleich weitaus | |
| harmlosere Trennung zwischen Ost und West an politischer Relevanz verlor. | |
| Unwichtig ist sie knapp fünfzwanzig Jahre später immer noch nicht. | |
| ## Touristen aller Länder … | |
| Was also tun? Tickets kaufen und nach Tunesien oder Ägypten reisen? Warum | |
| nicht. Vor Ort zu sein, hilft ja oft, um Verhältnisse und | |
| Interessenkonflikte besser in den Blick nehmen zu können. Zumal, wenn so | |
| viele Klischees ihr Unwesen treiben. | |
| Und selbst wenn das mit dem Erkenntnisgewinn nicht klappen sollte, jede | |
| Reise in die von ihren Exdiktatoren mit Hilfe des Westens ausgesaugten | |
| Länder bringt wertvolle Devisen. In den Touristenorten ist die Lage so | |
| sicher wie vor der Arabellion, selbst in Kairo kann sich jeder Tourist | |
| jenseits vom Tahrirplatz unbehelligt bewegen, ohne um seine Unversehrtheit | |
| fürchten zu müssen. Auch hier gilt es zu differenzieren: Westliche | |
| Journalisten sind sehr wohl gefährdet, Touristen hingegen wurden bislang | |
| weder in Tunesien noch Ägypten von den kämpfenden Parteien auch nur | |
| behelligt. | |
| Auf dem politischen Feld indes bleibt die Ungewissheit: Ob Ägypten in | |
| Richtung Iran driftet oder in Richtung Türkei geht oder Demokratie und | |
| Islam(ismus) auf eine dritte Weise verbindet - wer weiß das schon zum | |
| jetzigen Zeitpunkt? Ob es den Syrern gelingt, den unfassbar grausamen | |
| Baschar al-Assad zu besiegen: auch hier Fragezeichen. | |
| Fraglos ist: Um die Gefahren, die Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten | |
| benennen und damit begreifen zu können, braucht die internationale Presse | |
| und brauchen ihre Leser einen langen Atem und also ein Einsehen darin, dass | |
| Demokratisierung ein umkämpfter Prozess ist und kein Event auf dem | |
| Tahrirplatz. | |
| 13 Jan 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ines Kappert | |
| ## TAGS | |
| tazlab 2012: „Das gute Leben“ | |
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