# taz.de -- Wahlen in Ägypten: Gottes Wort in Volkes Ohr | |
> Die Salafisten werden zweitstärkste Kraft im ägyptischen Parlament sein. | |
> Nach außen geben sie sich moderat, doch bei den Wählern punkten sie | |
> radikalen Sprüchen. | |
Bild: Nada Abo El-Maty, Kandidat der Salafisten, mit Bewunderern. | |
KAIRO taz | "Ein Antibiotikum kann viele Krankheiten und viele Menschen | |
heilen. Es ist eines der wundersamen Dinge, die Gott der Menschheit | |
geschenkt hat." Der Kandidat der salafistischen Al-Nur-Partei legt eine | |
rhetorische Pause ein und lässt seine Worte auf das Publikum im | |
Arbeiterviertel Schubra al-Chaima im Norden Kairos wirken. | |
Dann lässt er keinen Zweifel daran, welches Allheilmittel er Ägypten | |
verschreiben will. "Die islamische Gemeinde wird nicht vorankommen, wenn | |
nicht das Wort Gottes umgesetzt wird, so wie es früher zur Zeit des | |
Propheten und seiner Nachfolger geschehen ist", hallt es in dreifach | |
verstärktem Echo im Predigerstil über den Platz. "Der Koran ist unsere | |
Verfassung", ruft er. | |
Drei andere Kandidaten nicken zustimmend und zwirbeln an ihren Bärten, dem | |
Markenzeichen der Vertreter der radikalen Islamisten-Partei. Das Podium der | |
Wahlveranstaltung erinnert an eine Kostümprobe, bei der man noch einmal die | |
Zeiten des Propheten nachzuspielen versucht. | |
Vom Rauschebart über die dreiviertellangen Hosen bis hin zu den Galabijas, | |
den weißen hemdartigen Gewändern, versuchen die Vertreter der radikalen | |
Islamisten den Flair von Mekka und Medina von einst ins heutige Ägypten zu | |
retten. | |
Auch im Publikum sitzen einige dieser orientalisch-mittelalterlichen | |
Folklorevertreter. Aber die meisten tragen die typische Kleidung der | |
ägyptischen Armenviertel, verschlissene Jogginganzüge und trotz des kühlen | |
Winterabends Plastiklatschen oder bestenfalls abgetragene Turnschuhe. Es | |
sind genau diese Viertel der Hoffnungslosigkeit sowie die ländlichen | |
Gebiete, in denen die Salafisten bei den Parlamentswahlen besonders gut | |
abgeschnitten haben. Dort, wo die vier von zehn Ägyptern leben, die mit | |
etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen müssen. Landesweit bekam die | |
Al-Nur-Partei ein Fünftel bis ein Viertel der Wählerstimmen. | |
## Die Wohltätigen | |
"Ich habe die Al-Nur-Partei gewählt, weil ich religiös bin und weil ich die | |
Kandidaten aus der Moschee kenne. Die haben uns Armen in all den Jahren | |
weitergeholfen, wenn wir Probleme hatten, etwa wenn wir | |
Krankenhausrechnungen bezahlen mussten", erklärt der Metallarbeiter Sameh | |
Zakariya, warum er seine Stimme den Salafisten gibt. "Die Liberalen haben | |
sich hier nie blicken lassen", fügt er hinzu. Ein anderer Al-Nur-Wähler hat | |
sich einfach vom Parteinamen inspirieren lassen, der übersetzt "das Licht" | |
bedeutet. "Die Al-Nur-Partei erleuchtet das Land und weist uns den Pfad zu | |
Gott", sagt er. | |
Sameh Seif al-Yazal, ein ehemaliger hochrangiger Geheimdienstoffizier, der | |
heute das Al-Dschumhurija-Zentrum für Strategische Studien leitet, hatte | |
erwartet, dass die Salafisten bei den laufenden Parlamentswahlen gut | |
abschneiden. Aber dass sie so erfolgreich sind, kommt auch für ihn | |
überraschend, besonders weil sie erst seit weniger als einem halben Jahr | |
als Partei existieren. "Sie haben eine Menge Geld, sind gut organisiert und | |
haben effiziente Kader", beschreibt er die Grundvoraussetzungen für ihren | |
Erfolg. "Und sie nutzen die fromme Mentalität der Ägypter aus. Sie haben | |
ihnen gesagt: ,Ihr habt schon jede politische Strömung ausprobiert und | |
niemand hat etwas für euch getan. Versucht es doch einfach einmal mit | |
uns.'" | |
Dabei haben die Salafisten den Menschen oft handfest unter die Arme | |
gegriffen. Sie stellten günstig medizinische Versorgung zur Verfügung oder | |
verkauften im Fastenmonat Ramadan Fleisch unter dem Marktwert. Seit Wochen | |
herrscht im Land ein Mangel an Kochgasflaschen. Lange Schlangen bilden sich | |
an den Verteilungszentren. Die Preise sind nach oben geschnellt. "Die | |
Salafisten haben Tausende von Gasflaschen besorgt und für ein Fünftel des | |
Preises verkauft. Die Menschen waren dankbar für diese Hilfe und sahen sie | |
in anderem Licht. Die Salafisten haben effektiv die Schwachstellen | |
ausgenutzt", erklärt al-Yazal und weist darauf hin, dass die Salafisten | |
massive finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten erhalten haben. | |
Nach Presseberichten, die eine Studie des Justizministeriums zitieren, soll | |
die salafistische Gruppierung Ansar al-Sunna in den letzten zwei Jahren | |
fast 37 Millionen Euro aus dem Emirat Katar und aus Kuwait erhalten haben. | |
Es sei die größte finanzielle Zuwendung aus dem Ausland für eine | |
nichtstaatliche Organisation in den letzten zwei Jahren gewesen. Die | |
Salafisten beteuern, dass sie das Geld nur für wohltätige Zwecke ausgegeben | |
haben. Auch aus Kuwait verlautet, man habe keine politischen, sondern nur | |
soziale Projekte unterstützt. Doch das Beispiel der Kochgasflaschen zeigt, | |
wie verschwommen die Grenzen zwischen Politik und Wohlfahrtsarbeit | |
verlaufen. | |
Die politische Führung der Al-Nur-Partei gibt ihre Interviews in einem der | |
Hochhäuser im vornehmen Stadtteil Maadi, mit Blick auf den Nil. Unten am | |
Aufzug wird deutlich, dass nicht jeder Hausbewohner mit ihnen | |
sympathisiert. Dort hängt ein handgeschriebener Aufruf, doch bitte alle | |
parteipolitischen Aktivitäten in diesem Gebäude zu unterlassen. Elf | |
Stockwerke weiter oben scheint das niemanden zu bekümmern. Aber hier wird | |
ganz anders geredet als bei den Wahlveranstaltungen in den Armenvierteln. | |
## Die Weichspüler | |
Hier hat man für die Außenwirkung das diplomatische Weichspülprogramm | |
eingelegt. "Wir fordern eine ägyptische Gesetzgebung, die mit der Scharia, | |
dem islamischen Recht, einhergeht und die nicht dem Koran und den | |
Überlieferungen des Propheten widerspricht", fasst Bassam Zarqa, eines der | |
Führungsmitglieder der Al-Nur-Partei das Programm zusammen. "Aber wenn eine | |
Mehrheit des Parlaments das anders sieht, dann werden wir uns dem beugen. | |
Ich kann der Mehrheit des Landes nicht meine Sicht der Dinge aufzwingen", | |
schränkt er ein. "Wir sind keine Taliban", sagt er. Das Trinken von Alkohol | |
müsse mit Drogenkonsum gleichgesetzt werden. Das aber gelte nur für | |
Muslime, sagt er. Und Frauen sollten am besten einen kompletten | |
Gesichtsschleier tragen, wenngleich: Aufzwingen wolle er das freilich | |
niemandem. | |
So besorgt sind die Salafisten über ihr internationales Image, dass einer | |
ihrer Sprecher, Yusri Hamad, sogar dem israelischen Militärradio ein | |
Interview gegeben hat, in dem er erklärte, dass seine Partei auf jeden Fall | |
den Friedensvertrag mit Israel und alle von der alten Regierung | |
unterschriebenen internationalen Verträge anerkenne. | |
In ihren eigenen Fernsehsendern und an der Heimatfront schlagen die | |
Salafisten dagegen andere Töne an. Dort fordert Abdel Monem al-Shahat, | |
eines der hochrangigen Parteimitglieder, dass an den Stränden Frauen und | |
Männer getrennt baden müssen und Hotels gemäß der Scharia keinen Alkohol | |
ausschenken dürfen. Und altägyptische pharaonische Statuen sollten verhüllt | |
werden, weil sie aus einer verrotteten Kultur stammten. Ein anderer | |
Parteisprecher, Nader Bakar, möchte den Strandtourismus gleich ganz | |
abschaffen, weil er zu "unmoralischen Lastern" führe. | |
Auch bei den Wahlplakaten selbst outen die Salafisten ihr Frauenbild. | |
Anstelle der einzigen Kandidatin prangt dort das Parteienlogo oder ein | |
weißer Fleck. Frauen sollen nicht öffentlich im Bild für sich werben. | |
## Die Gottgläubigen | |
Emad Eddin Abdel Ghafour, der Chef der Al-Nur-Partei, der ebenfalls im | |
Maadi-Büro im elften Stock Audienzen gibt, will das nicht kommentieren. Die | |
Frauen hätten selber entschieden, auf den Wahlplakaten nicht zu erscheinen, | |
und bei den anderen Dingen handle es sich nicht um die Parteilinie, sondern | |
die privaten Aussagen einzelner Parteimitglieder, sagt er. Er redet lieber | |
allgemein über das Verhältnis von Religion und Staat. | |
"Ein Staat, getrennt von der Religion, ist nicht akzeptabel. Manche sagen, | |
sie wollen einen modernen, institutionellen und demokratischen Staat - mit | |
all dem habe ich keine Probleme. Aber ein Staat ohne Religion, das geht mit | |
uns nicht", gibt er klar zu verstehen. Auf die Frage, wie er es damit | |
halte, wenn eine Parlamentsmehrheit eine seiner Meinung nach unislamische, | |
aber demokratische Entscheidung treffe, spricht er davon, dass jede | |
Demokratie ein Referenzsystem brauche, und das sei in Ägypten eben | |
islamisch. | |
Zusammen mit den moderaten islamischen Muslimbrüdern und deren Freiheit- | |
und Gerechtigkeitspartei, die etwa die Hälfte der Abgeordnetensitze | |
gewonnen hat, wären die Salafisten, zumindest mathematisch gesehen, Teil | |
einer ideologisch islamistischen Mehrheit. Gemeinsam könnten die beiden | |
Gruppierungen jedes konservativ-religiös gefärbte Gesetz durchbringen. | |
Doch die Muslimbrüder, seit acht Jahrzehnten politisch existent und die | |
weltweit älteste islamistische Gruppierung, und die Salafisten als | |
vollkommen neuer Faktor in der Politik sind sich alles andere als - die | |
Prophetenfarbe! - grün. Die Muslimbrüder werfen den Salafisten Welt- und | |
Politikferne vor. Die Salafisten sehen die Muslimbrüder dagegen als | |
Opportunisten. "Die Al-Nur-Partei ist in die Politik gegangen, um der | |
Religion zu dienen. Wir instrumentalisieren nicht die Religion für die | |
Politik. Sondern genau umgekehrt", meint der Salafisten-Wähler Said Salem | |
dazu, in deutlicher Abgrenzung von der islamistischen Konkurrenz der | |
Muslimbrüder. | |
"Die Beziehungen zwischen Salafisten und Muslimbrüdern sind ausgesprochen | |
schlecht. Sie haben viele Differenzen. Daher glaube ich, dass es im neuen | |
Parlament nicht zu einer großen islamistischen Koalition zwischen den | |
beiden kommen wird", erläutert der Strategieexperte al-Yazal. Auch der Chef | |
der Salafisten-Partei schließt ein solches Bündnis schon jetzt praktisch | |
aus. "Ich glaube, dass uns die Muslimbrüder aus einer möglichen | |
Regierungsbeteiligung ausschließen und dass wir in der Opposition bleiben | |
werden", prophezeit Abdel Ghafour. | |
## Die Stimmungsmacher | |
Nichtsdestotrotz könnten die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und al-Nur | |
in Sachthemen zusammenarbeiten. Zumindest können die Salafisten die | |
Muslimbrüder als Konkurrenten unter Druck setzen. Und eines ist sicher: Die | |
Salafisten werden sich gesellschaftlich zu Wort melden. In Tunesien, wo sie | |
wesentlich schwächer sind als in Ägypten, haben sie beispielsweise an den | |
Universitäten eine Kampagne für geschlechtergetrennten Unterricht und das | |
Recht der Studentinnen auf einen Vollschleier gestartet. | |
Mit Worten machen die Salafisten in Ägypten schon lange Stimmung. Seien es | |
die 10 Prozent ägyptischer Christen oder die Frauen, die vergangenes Jahr | |
ins politische Geschehen katapultiert wurden, oder seien es einfach | |
liberale und weltoffene Ägypter: Der Gedanke an einen starken politischen | |
Block der Bärtigen im Parlament, wenngleich nur in der Opposition, macht | |
vielen Angst. | |
9 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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