Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rückblick auf arabische Revolutionen 2011: Das war erst der Anfang
> Wilde Schießereien in Tunis, furchtlose Demonstranten auf dem
> Tahrirplatz, beste Stimmung in Tripolis: Ein persönlicher Rückblick des
> taz-Korrespondenten.
Bild: Protest in Kairo gegen den inzwischen gestürzten libyschen Machthaber Mu…
Es war etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht und das Jahr 2011 gerade
angebrochen, als auf der Silvesterparty in Kairo mein Handy klingelte. Bei
einer Messe war in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria eine koptische
Kirche in die Luft gejagt worden, 21 Menschen starben. "Dieses Jahr kann ja
heiter werden, droht Ägypten ein Religionskrieg?", war mein Gedanke auf dem
Heimweg am Morgen des ersten Tages dieses Jahres.
Doch es sollte anders kommen. Wenige Tage darauf im Kairoer Viertel
Schubra, wo viele Christen leben: aufgebrachte koptische und muslimische
Jugendliche wollten interviewt werden. Alle warfen der Staatssicherheit
vor, den Anschlag initiiert zu haben. Sie beschuldigten den Staat, die
Christen nicht ausreichend zu schützen.
Statt aufeinander loszugehen, lieferten sich die Jugendlichen eine
überkonfessionelle Straßenschlacht mit der Polizei. An diesem Abend lag
schon etwas Aufstandsbrise gegen Mubarak in der Luft.
Aber zunächst kam der tunesische Diktator Zine El Abidine Ben Ali an die
Reihe. Einen Tag nach dessen Flucht am 14. Januar machte ich mich auf nach
Tunis. Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel verlief friedlich, bis unser Taxi
von zwei Polizeifahrzeugen in die Zange genommen wurde. Polizisten mit den
Waffen im Anschlag sprangen aus den Auto und zwangen uns, das Gepäck zur
Durchsuchung auf die Straße zu werfen.
## Wie in einem Science-Fiction-Film
Die ersten Tage in Tunis nach dem Abgang Ben Alis waren angespannt. Das
zeigte sich auch bei der Ankunft am Hotel, das man aus Sicherheitsgründen
nicht mit dem Auto anfahren konnte. Also schleppten wir unser Gepäck durch
eine kleine Gasse, in der plötzlich eine wüste Schießerei begann. Ben Alis
Scharfschützen machten auf den Dächern die Innenstadt noch unsicher, auch
wenn ihr Boss bereits abgereist war.
"Willkommen im neuen Arabien", dachte ich und lag minutenlang hinter einem
Auto unter meiner Tasche, bis die Schießerei endlich zu Ende war. Es war
ein neues, aber auch unsicheres Arabien. Der Kampf zwischen Alt und Neu war
noch längst nicht ausgestanden. "Ich glaube, ich lebe in einem
Science-Fiction-Film", fasste der Journalist Muhsen Abdel Rahman in Tunis
die Lage zusammen. Die von Jugendlichen am häufigsten gestellte Frage
lautete: "Und wann geht es bei euch in Kairo los?" Ich zuckte immer nur mit
der Schulter, oder antwortete mit einem kurzen "Schön wär's".
Da hatte ich noch keine Ahnung, dass ich kurz nach meiner Rückkehr nach
Kairo am 25. Januar auf dem Tahrirplatz stehen und diesen unglaublichen
Moment miterleben würde, an dem die jungen Ägypter erstmals furchtlos auf
die Polizeiketten zustürmten - und die Polizisten vor den Massen
davonliefen. Am 28. Januar verlor der junge Zahnarzt Ahmad Harara durch die
eingesetzten Gummigeschosse sein rechtes Auge, er war einer der vielen
Opfer des Aufstandes. 18 Tage und 840 Tote dauerte es, bis Mubarak
schließlich aufgab.
Es war ein Aufstand ohne politische Führung und ohne Konzept, was nach dem
Abgang des Diktators geschehen sollte. Der Kampf zwischen jenen, die
möglichst viel aus der alten Zeit hinüberretten wollen und denen, die den
vollkommenen Bruch mit der Vergangenheit fordern, geht bis heute weiter.
## Protest gegen die Militärführung
Ende dieses Jahres fand ich mich erneut in den Tränengasschwaden auf dem
Tahrirplatz wieder. Diesmal ging es nicht mehr gegen Mubarak, sondern mit
den gleichen Parolen gegen die Militärführung, die seit dem Sturz des
Diktators die Macht übernommen hat. Und wieder war er dort, der Zahnarzt
Ahmad Harara. Auf dem Tahrirplatz war er bereits eine Berühmtheit mit
seiner Aluminium-Augenklappe, auf der das Datum des 28. Januar eingraviert
war, jenes Tags, als er verletzt wurde. Jetzt hat er bei den
Straßenschlachten - wieder durch Gummigeschosse - sein zweites Auge
verloren.
Ägyptens aktive Facebook-, Twitter- und Bloggergemeinde hat seinen
berühmten Satz im Internet verbreitet: "Es ist besser, blind zu sein und
erhobenen Hauptes durch das Leben zu gehen, als sehen zu können und auf den
Boden schauen zu müssen."
Einer von vielen Sätzen, Sprüchen und Momenten, die mich in diesem Jahr
umgeworfen haben. Gilt für die arabischen Revolutionen das Konzept des
objektiven Journalismus, der ausgewogen zwischen Diktaturen und
Freiheitsbewegungen berichtet? Diese Frage habe ich mir in diesem Jahr oft
gestellt. Zugegeben: Nach zwei Jahrzehnten Arbeit und Leben in Ägypten war
es unmöglich, am Tag des Sturzes von Mubarak als Journalist nicht
mitzufeiern.
Manchmal wird das Konzept des objektiven Journalismus auch mit Distanz zum
Objekt gleichgesetzt, über das man berichten soll. Also lieber den
Tahrirplatz vom journalistischen Heißluftballon aus beschreiben, als
mittendrin zu stehen und über die Leiden, Freuden und Sorgen der Menschen
zu berichten - denn dann könnte man sich mit ihrer Sache gemein machen.
## "Schönste Krise meines Lebens"
Dabei wäre guter Journalismus doch gerade das Gegenteil: möglichst nah dran
zu sein. Bei meiner letzten Reise nach Tripolis im August, wenige Tage nach
dem Sturz von Muammar al-Gaddafi, war die Versorgungslage katastrophal:
kein Wasser, nur sporadisch Strom, in den Läden nur noch Thunfischdosen.
Darüber kann und muss man berichten.
Doch auch hier ergab sich eine völlig andere Perspektive, wenn man auf die
Straße ging und mit den Menschen sprach. Etwa mit dem alten Mann, der einen
Wasserkanister auf einer alten Karre an einer geschlossenen Ladenzeile in
der Innenstadt entlang schob. Das Wasser hatte er zuvor an einem der
wenigen Brunnen abgefüllt. "Das ist die schönste Krise meines Lebens",
erklärte der 70-jährige Rentner gut gelaunt. Nach 42 Jahren Gaddafi werde
er das schon durchstehen und Geduld aufbringen, bis er sich seinen
Lebenstraum erfüllen und erstmals frei wählen kann. Da verkehrte sich die
Wahrnehmung des Versorgungsengpasses flugs ins Gegenteil.
Es gab auch Situationen, da funktionierten überhaupt keine journalistischen
Kategorien mehr. Etwa, als ein Arzt in einem Krankenhaus in Tripolis
erzählt, dass einen Trakt weiter ein Scharfschütze Gaddafis liege; sofort
war mein Interesse für eine gute Geschichte geweckt. Nur, dass ich schon
beim Eintritt ins Krankenzimmer geschockt war: Ein schwerverletztes
19-jähriges Mädchen lag da in einem Bett, das sie mit ihrem zierlichen
Körper kaum ausfüllte. Sie war der Scharfschütze Gaddafis.
Sareen erzählte, wie sie auf der Flucht vor den Rebellen vom Dach eines
zweistöckigen Gebäudes gesprungen war. Sie sprach langsam und unter starken
Schmerzen. Auf die Frage, wie es ihr nun gehe, jung, schwerverletzt,
Gaddafi auf der Flucht, bracht das Mädchen in Tränen aus und beendet das
Gespräch. Was soll man über Sareen denken?
## Zwei Seiten
Sie tat mir leid, ihr junges Leben ruiniert, ein Opfer. Oder doch eine
Täterin? Wie viele Menschen mag sie sie auf dem Gewissen haben, die sie,
versteckt auf einem der Dächer von Tripolis, erschossen hat? Vielleicht
taucht er da plötzlich wieder auf, der objektive Journalist, der beide
Seiten betrachtet. Beim Verlassen des Krankenzimmers der Scharfschützin
fühlte ich mich hilflos. Meine Kategorien griffen nicht mehr.
Das ist die Grenze des Journalismus, egal ob objektiv, nah dran oder sonst
irgendwie. Vergessen werde ich den Anblick des Mädchens nie mehr.
Dann kam der 29. November, der Tag, an dem ich das erste Mal in meinem
Leben in Ägypten zur Wahl gegangen bin. Was für Europäer selbstverständlich
ist, entwickelte sich in Ägypten zu einem Festtag. Stolz zeigten sich die
Ägypter gegenseitig den Finger mit der nichtabwaschbaren Tinte, um
sicherzustellen, dass niemand zweimal wählen geht. Ein Zeichen der neuen
Zeit.
Die endgültigen Wahlergebnisse werden erst Mitte Januar bekannt. Aber schon
jetzt ist deutlich, dass islamistische Gruppierungen die Mehrheit im
Parlament stellen werden. Wird die Religion nun zu einem festen Faktor in
der Politik? Alles spekuliert, wie pragmatisch oder ideologisch sich die
Islamisten verhalten werden. Und welche Rolle wird das Militär spielen und
wie, wer auch immer das Land regiert, werden die massiven sozialen Probleme
gelöst werden?
## Das Spiel ist noch nicht zu Ende
In Europa kategorisiert man die Entwicklungen in der arabischen
Nachbarschaft gerne mit dem Lauf der Jahreszeiten. Hat man zunächst den
arabischen Frühling hochgejubelt, wird nun pessimistisch der arabische
Winter prophezeit.
Die Ägypter dagegen sind Fußballfanatiker und ziehen andere Vergleiche.
Wael Khalil, ein junger Computeringenieur und Tahrir-Aktivist, glaubt, dass
es mit der Demokratie ähnlich ist wie mit dem Fußball: "Das Spielen lernst
du nicht, indem du dich im Fitnessstudio vorbereitest, sondern draußen auf
dem Platz", meint er und plädiert dafür, dem politischen Prozess Zeit zu
geben.
"Das Problem ist", sagt Aiman Eid, der Komponist einer der ägyptischen
Revolutionshymnen auf YouTube, "dass wir bereits in der zweiten Minute mit
dem Sturz Mubaraks ein entscheidendes Tor geschossen, gejubelt und dabei
vergessen haben, dass wir noch 88 Minuten vor uns haben".
Beim Sturz Mubaraks gab's keinen Trainer, keinen Mannschaftskapitän, keinen
Schiedsrichter, dafür viele junge Spieler und Spielerinnen, Ältere,
Christen und Muslime, manche mit langen Bärten. 2011 war erst der Anfang.
Abgepfiffen wird noch lange nicht.
30 Dec 2011
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schrecken der Diktatur in Libyen: Gaddafi wollte Rache bis ins Jenseits
Seinen Feinden gönnte Gaddafi nicht mal die Totenruhe. In der Leichenhalle
des Zentralkrankenhauses von Tripolis verwalten Beamte den Horror von
einst.
"Tahrir 2011" - Arabischer Frühling im TV: Der Geist der Revolution in 3-D
"Tahrir 2011" bringt den Arabischen Frühling in die Wohnzimmer - um 23.15
Uhr im WDR. Die Geschichte der Revolution wird aus Teilnehmer-Perspektive
erzählt.
Streit der Woche zur arabischen Revolution: Sind Frauen die Siegerinnen?
Vor einem Jahr vertrieben die Tunesier ihren Präsidenten Ben Ali. Seitdem
rebellieren arabische Frauen und Männer gegen Missstände und Unmündigkeit.
Wahlen in Ägypten: Gottes Wort in Volkes Ohr
Die Salafisten werden zweitstärkste Kraft im ägyptischen Parlament sein.
Nach außen geben sie sich moderat, doch bei den Wählern punkten sie
radikalen Sprüchen.
Razzia gegen NGOs in Ägypten: Adenauers Tür bleibt zu
Ende letzter Woche wurde neben 16 Nichtregierungsorganisationen auch das
Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung durchsucht. Es geht um angeblich illegale
Finanzhilfen.
Arabischer TV-Sender "Al-Dschasira": Das Fenster zur Revolution
Als der Arabische Frühling begann, war al-Dschasira immer dabei. Für die
Revolutionäre wurde er zur Hauptinformationsquelle. Doch die Anerkennung
durch den Westen ist labil.
Nach der Befreiung Libyens: Land der Freiwilligen
Vier Monate nach der Befreiung ist von staatlichen Strukturen nichts zu
sehen. Libyen wird von seinen Bürgern gemanagt, und die Behörden haben nur
symbolischen Wert.
Debatte Arabische Revolution: Demokratie und Islam
Weder kommen die arabischen Demokratiebewegungen aus dem Nichts noch ist
ihr Verlauf überraschend. Denn entscheidend für den Erfolg ist die
jeweilige Militärkultur.
Aktivist über ägyptische Armee: "Militär muss Ausland nicht fürchten"
Gezielt wurden auf dem Tahrir-Platz Soldaten eingesetzt und Frauen
angegriffen, sagt der Aktivist Tarek Mustafa. Die Revolutionsbewegung ist
in der Bevölkerung isoliert.
Debatte Ägypten: Die Islamisten sind gespalten
Dem Land am Nil drohen keine iranischen Verhältnisse. Das Ausland sollte
die sich neu formierende politische Landschaft lieber genau betrachten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.