# taz.de -- Debatte Ägypten: Die Islamisten sind gespalten | |
> Dem Land am Nil drohen keine iranischen Verhältnisse. Das Ausland sollte | |
> die sich neu formierende politische Landschaft lieber genau betrachten. | |
Bild: Die soziale Schieflage beschäftigt die Ägypter am stärksten: Die Armee… | |
"Die Islamisten übernehmen die Macht am Nil" - der Aufschrei nach dem | |
Bekanntwerden der ersten Ergebnisse der Parlamentswahlen in Ägypten war | |
groß. Die "demokratischen Kräfte" waren nur die nützlichen Idioten, die | |
sich "geopfert haben", doch "die Revolution wird von den Islamisten | |
gekapert", so wird moniert. | |
Tatsächlich formiert sich die politische Landschaft nach drei Jahrzehnten | |
Mubarak-Diktatur vollkommen neu. Noch liegen vier Wahlrunden in | |
unterschiedlichen Gebieten den Landes vor uns, bis das endgültige Ergebnis | |
Mitte Januar bekannt sein wird. Aber der Trend ist mehr als deutlich: | |
Erwartungsgemäß übernahm die seit 80 Jahren in Ägypten agierende | |
Muslimbruderschaft in Form der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) | |
nach inoffiziellen Ergebnissen bisher mit 49 Prozent die solide Führung. | |
Überraschend ist mit 20 Prozent das unglaublich starke Abschneiden der | |
Salafisten, einer Gruppe radikaler Islamisten, die sich erst in den letzten | |
vier Monaten als Partei Al-Nur formiert hatten. Hier zeigt sich, dass sich | |
die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, als eines der größten Probleme | |
des Arabischen Frühlings erweisen. | |
## Demokratisierungsprozesse sabotieren | |
Mit ihrer finanziellen Unterstützung der Salafisten haben sich die | |
Herrscher am Golf ein Instrument geschaffen, um den | |
Demokratisierungsprozess in der Region zu sabotieren. Knapp gefolgt werden | |
die Salafisten laut bisherigem Wahlergebnis vom liberalen Ägyptischen | |
Bündnis, das zusammen mit anderen liberalen und linken Gruppierungen und | |
ein paar Überresten des alten Regimes den Rest der Sitze unter sich | |
aufteilt. Die Tahrir-Jugend konnte - praktisch ohne jegliche finanzielle | |
Mittel - mit ihrem Bündnis "Die Revolution geht weiter" bisher nur 3 | |
Prozent erreichen. | |
Damit sind drei politische Lager entstanden: die moderaten Muslimbrüder, | |
die radikalislamischen Salafisten und ein in mehrere Parteien und Bündnisse | |
aufgeteiltes liberales, linkes und säkularistisches Lager. | |
Rein rechnerisch hätte der religiöse Flügel die Mehrheit im Land. Praktisch | |
gesehen sind sie aber Konkurrenten, was das "richtige" Islamkonzept in der | |
Politik angeht. Während die Muslimbruderschaft über das türkische | |
Politikkonzept der AKP und Erdogan als Vorbild diskutiert, schwebt den | |
Salafisten die saudische Variante vor. | |
Die entscheidende Frage für den politischen Neustart Ägyptens wird nun | |
sein, in welchem Lager sich die Muslimbrüder mit ihrer FJP Bündnispartner | |
suchen werden. Sie könnten ein ideologisches Bündnis mit den Salafisten | |
eingehen oder aber ein pragmatisches mit Teilen des liberalen Lagers. | |
## Islamisten brauchen Touristen | |
Kurz vor der Wahl hatte Essam Erian, eines der führenden Mitglieder der | |
Muslimbruderschaft, die Salafisten noch als "eine Belastung für jede | |
Koalition" bezeichnet. Nach den ersten beiden Wahlgängen sind die | |
Muslimbrüder vorsichtiger geworden und schließen in guter demokratischer | |
Politikermanier inzwischen keinen Koalitionspartner mehr aus noch ein, bis | |
die Wahlen zu Ende sind. | |
Aber es werden jenseits der innerislamistischen Konkurrenz zu den | |
Salafisten wahrscheinlich Sachzwänge sein, die die Muslimbrüder in Richtung | |
liberales Lager treiben werden. Vier von zehn Ägyptern mussten schon zu | |
Mubaraks Zeiten mit etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen. Eine | |
Situation, die sich mit der Revolution nicht verbessert hat. Jeder zehnte | |
Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Das Land muss | |
dringend den durch die Revolution eingebrochenen Tourismus wiederankurbeln. | |
Und anders als Saudi-Arabien hat Ägypten keine großen Ölvorkommen, sondern | |
hängt von ausländischen Investitionen ab, die seit dem Sturz Mubaraks und | |
den folgenden Zeiten der politischen Ungewissheit gegen null gehen. Kapital | |
aus dem Golf kann diese Lücke alleine nicht schließen. Der Spielraum für | |
islamistische Experimente ist also begrenzt. | |
Insofern muss sich auch die Muslimbruderschaft neu erfinden. Die internen | |
Debatten dazu laufen schon länger, vor allem mit der Parteijugend. Jetzt | |
auch noch politische Verantwortung zu bekommen dürfte die Muslimbrüder eher | |
in die politische Mitte rücken. | |
## Immer mehr Gewerkschaften | |
Wer immer Ägypten in den nächsten Monaten politisch anführt, hat es mit | |
drei Herausforderungen zu tun. Erstens müssen die Militärs in der Politik | |
zurückgedrängt werden. Das wird zu großen Konflikten führen. | |
Die zweite große Herausforderung ist die soziale Frage. Seit dem Sturz | |
Mubaraks haben sich mehr als 90 Gewerkschaften gegründet. Das Land wurde in | |
den letzten Monaten von einer noch nie da gewesenen Streikwelle überzogen, | |
nicht nur der Arbeiter in den Staatsbetrieben, sondern auch der | |
Staatsbeamten. | |
Während man im Westen darüber brütet, wie sich mit den politisch starken | |
Islamisten das Verhältnis zwischen Religion und Staat in der arabischen | |
Welt neu definieren wird, sind für die Mehrheit der Ägypter Arbeitsplätze, | |
Löhne, Preise, Arbeits- und Wohnbedingungen das brennendste Problem. Bisher | |
haben die Muslimbrüder darauf keine Antworten gefunden, und es ist | |
wahrscheinlich, dass sich die massiven wirtschaftlichen und sozialen | |
Probleme Ägyptens nur in Zusammenarbeit mit Islamisten, Liberalen und | |
Linken lösen lassen werden. | |
Zwar hat die FJP nach bisherigen Wahlergebnissen die Hälfte der Sitze | |
gewonnen, aber sie wird sich in dieser Situation hüten, die alleinige | |
politische Verantwortung zu übernehmen. Und das bringt uns zur dritten und | |
wahrscheinlich größten Herausforderung für die, die das Land politisch | |
verwalten werden - egal ob Islamisten, Liberale oder eine Koalition aus | |
beiden: Sie haben es inzwischen mit einer hochgradig politisierten und | |
engagierten Bevölkerung zu tun, die nicht tatenlos vier Jahre bis zu den | |
nächsten Wahlen warten wird, bis sich etwas getan hat, sondern die gelernt | |
hat, wie sie ihre Angelegenheiten auf der Straße und durch Streiks | |
vorantreiben können. | |
Ein großer Teil der Ausrichtung des Landes wird auch weiterhin nicht im | |
Parlament, sondern auf der Straße ausgehandelt werden. | |
11 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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