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# taz.de -- Proteste in Ägypten: Revolutionen ohne Ende
> In wenigen Tagen beginnen die Parlamentswahlen, aber trotzdem
> demonstrieren die Massen. Einheimische Beobachter glauben nicht an einen
> reibungslosen Systemwechsel.
Bild: Auch am Freitag wurde wieder auf dem Tahir-Platz demonstriert.
KAIRO taz | Revolution 2.0 und Parlamentswahlen, wie geht das zusammen? Das
ist die Frage, die bei dem Massenprotest auf dem Tahrirplatz an diesem
Freitag mitschwingt. Es ist der sechste Tag in Folge, an dem die Menschen
im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt stehen und den Rücktritt des
Militärrates verlangen.
Zugleich finden ab dem kommenden Montag Parlamentswahlen statt. Das zu
wählende Parlament soll eine verfassungsgebende Versammlung bestimmen,
während die Exekutivmacht weiterhin in den Händen des obersten Militärrats
bleibt, bis es Präsidentschaftswahlen gibt. Laut Militär ist das nicht vor
Juni 2012 der Fall. So zieht Feldmarschall Muhammad Tantawi weiter die
Strippen, egal wen die Ägypter wählen werden.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Militärrat jetzt eine neue
Regierung mit Ministerpräsident Kamal al-Ganzuri bestimmt hat. Er amtierte
schon einmal unter Mubarak als Regierungschef. Der 78-jährige Ganzuri
erklärte am Freitag, er werde vor dem Beginn der Wahlen kein Kabinett
bilden.
Zahnarzt Hassan Subaih ist an diesem Freitag auf den Tahrir gekommen. Er
hält die Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt für unvernünftig. "Die Revolution
wird nicht ohne friedliche Proteste auf der Straße zu Ende gebracht", sagt
er. Und was die Wahlen angeht, fürchtet er, dass die alten Kräfte des
Regimes sie sabotieren werden.
## "Wahlen und Druck auf der Straße gehören zusammen."
Rania Mustafa, Mitarbeiterin einer Wohlfahrtsorganisation, sieht das
anders. "Wir sollten die Wahlen nicht boykottieren, denn sie sind ein
erster Schritt hin zu einem zivilen Staat. Wer nicht wählen geht, überlässt
das Feld den anderen. Ich bin auf den Platz gekommen, weil nur die Proteste
das Land ins richtige Fahrwasser bringen. Wahlen und Druck auf der Straße
gehören zusammen."
Auf dem Platz findet sich auch der ein oder andere Parlamentskandidat.
Muhammad Qassas ist Kandidat der Muslimbrüder-Abspaltung "Ägyptische
Strömung". Diese Gruppierung ist eine Kreation des neuen Ägypten. "Wir
stehen in der Mitte, konservativ und jungdynamisch und revolutionär",
versucht er seine islamistische Weltanschauung mit der Moderne und der
Revolution in Einklang zu bringen. "Wir haben unseren Wahlkampf
eingestellt", sagt er weiter. "Wir haben beschlossen, uns hier
anzuschließen, weil die Forderungen der Revolution wichtiger sind als die
von individuellen Parteien. Wir sind für Wahlen, aber in dieser Atmosphäre
ist das problematisch, wenn die Sicherheitskräfte auf die Menschen
einprügeln und der Militärrat das Land nicht voranbringt."
"Trotz der Geschehnisse der letzten Tage wird die Wahlbeteiligung groß
sein", glaubt Said Sadek, Politologe an der Amerikanischen Universität in
Kairo. "Die nächsten Wahlen werden Ägypten vor- oder zurückbringen",
prognostiziert er. "Die Muslimbrüder werden wählen gehen, um zu versuchen,
den Wahlen ihren Stempel aufzudrücken, aber auch die Liberalen, Kopten und
Frauen werden zu den Urnen kommen, um ihre Rechte dort zu vertreten."
Der ägyptische Wahlkampf war in vielerlei Hinsicht in der letzten Woche
quasi inexistent. Es gab nur wenige Wahlveranstaltungen, und anstatt die
Kandidaten vorzustellen, berichteten die Medien über den Tahrirplatz und
die Proteste in 14 anderen Provinzen. "Aber wir dürfen nicht vergessen,
dass es in vielen Teilen des Landes keinen Aufstand gab", so Sadek weiter.
"Vor allem auf dem Land wurde trotzdem Wahlkampf gemacht. Und auch die
islamistischen Kräfte haben sich mehr auf den Wahlkampf als auf die
Proteste konzentriert, denn sie hoffen, die Wahlen zu gewinnen."
Der Politologe glaubt nicht an einen reibungslosen Systemwechsel in
Ägypten. "Das ist, wie wenn man seinen Computer von Windows XP auf Windows
7 umstellt." Man versuche ein Regime loszuwerden, und dessen Reste halten
an den alten Zeiten fest. Es gebe viele Möglichkeiten, die Wahlen zu
sabotieren. "Es ist unwahrscheinlich, dass die Wahlen ruhig vor sich gehen,
auch wenn das Militär versprochen hat, sie zu schützen", meint er.
"Vertreter des alten Regimes und der großen Clans auf dem Land werden wie
üblich ihre Schlägertruppen organisieren."
Das größte Problem sieht Sadek kommen, wenn am Ende der drei Wahlgänge und
drei Stichwahlen im Januar das Endergebnis verkündet wird. Da werden viele
enttäuscht sein, vielleicht sogar die Muslimbrüder, die zu Zeiten Mubaraks
gewohnt waren, die stärkste Oppositionspartei zu sein. Wenn die Armee es
nicht schafft, ruhige und transparente Wahlen zu organisieren, und wenn die
Leute glauben, dass das Wahlergebnis manipuliert wurde, dann, davon ist
Sadek überzeugt, "werden wir in Ägypten die Revolution 3.0 erleben".
25 Nov 2011
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
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