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# taz.de -- Arabischer TV-Sender "Al-Dschasira": Das Fenster zur Revolution
> Als der Arabische Frühling begann, war al-Dschasira immer dabei. Für die
> Revolutionäre wurde er zur Hauptinformationsquelle. Doch die Anerkennung
> durch den Westen ist labil.
Bild: Newsroom von Al-Dschasira in Doha.
LONDON taz | Wer live dabei sein wollte, musste al-Dschasira schauen. In
der heißen Phase des Arabischen Frühlings gab es bei CNN, ARD oder ZDF
wenig zu sehen, während der arabische Sender mit Sitz in Katar oft rund um
die Uhr live berichtete. Kein anderer war näher dran, als in Tunesien die
Unruhen losbrachen. Als in Syrien versucht wurde, die Proteste blutig
niederzuschlagen.
Wenn die Kollegen anderer Sender sich am Tahrirplatz in Kairo längst in
ihre Hotelzimmer verschanzt hatten, weil die Situation zu brenzlig geworden
war, berichteten Al-Dschasira-Reporter ungerührt weiter - und interviewten
live mitten auf dem Platz Aktivisten. Und wenn dort, wo Proteste
aufflammten, kein Reporter vor Ort war, sendete al-Dschasira scheinbar aus
dem Nichts Informationen über die aktuelle Lage.
Das sei möglich gewesen, weil sein Sender von Anfang an soziale Medien am
Newsdesk genutzt habe, sagt Bilal Randeree. Er arbeitet in der
Onlineredaktion des englischen Arms von al-Dschasira. "Als die Proteste in
Tunesien begannen, hatten wir keine Journalisten vor Ort, darum haben wir
über Social-Media-Kanäle Leute kontaktiert", sagt er.
Aufrufe bei Twitter und Facebook brachten die Redakteure im Newsroom in
Katar mit Menschen in Tunesien in Kontakt, die ihnen ihre Geschichte
erzählten. Eine Quelle, die sich in den Ohren vieler altgedienter
Journalisten katastrophal anhört - wie will man genau überprüfen, wer dort
an der Tastatur sitzt? Von welchen politischen Interessen er geleitet ist?
Wie überprüfen, ob er die Tatsachen korrekt darstellt? "Sobald es uns
gelungen ist, Kontakt herzustellen und über diese Menschen an Informationen
zu kommen, haben wir ganz klassischen, altmodischen Journalismus betrieben
- über Telefon und E-Mail - um der Geschichte auf den Grund zu gehen", sagt
Randeree.
## Journalisten mit Ortskenntnis
Bei Videos, die sie zugespielt bekommen oder bei YouTube fanden, hätte man
zur Überprüfung der Authentizität den Lokalbonus von al-Dschasira genutzt:
Im Newsroom sitzen Journalisten, die aus Dutzenden Ländern in der Region
stammen - deren Ortskenntnis würde es einfach machen, Unstimmigkeiten
gefälschter Videos aufzudecken: falsche Straßenschilder oder Kleidung,
unpassende Dialekte.
Diese gute Vernetzung in der Region und die Einbindung sozialer Medien
machte al-Dschasira zum auch im Westen vielgelobten Vorzeigemedium bei der
Berichterstattung über den Arabischen Frühling. Sein arabischer Kanal war
für die Menschen vor Ort Hauptinformationsquelle - eine, die nach Ansicht
vieler Beobachter die Revolutionsbewegungen stärker angefacht habe als
Facebook oder Twitter. Auch oder gerade weil sie nach Ansicht vieler
Beobachter stark von politischen Interessen geprägt war.
Der englische Kanal war für viele im Westen das Fenster zu den Revolutionen
in der Region - und sehr viel neutraler ausgerichtet als die
Berichterstattung der arabischen Kollegen.
## Späte Reputation als verlässliche Quelle
Eine überraschende Entwicklung - war doch al-Dschasira nach der Gründung
vor 15 Jahren vom Westen lange sehr kritisch beäugt worden, wahlweise als
propagandistischer Arm der Scheichs von Katar oder als Sprachrohr von
al-Qaida. Auch wenn sich die Reputation des arabischen Kanals langsam
verbessert habe, indem er sich gezielt für das Einführen einer
Diskussionskultur im arabischen Raum, der Darstellung von Meinung und
Gegenmeinung starkgemacht hatte, dümpelte der englische Schwestersender
lange vom globalen Publikum wenig beachtet vor sich hin, sagt die Berliner
Kommunikationswissenschaftlerin und Nahostexpertin Carola Richter.
Bis zum Beginn des Arabischen Frühlings im Dezember 2010. "Plötzlich hatte
der Westen das Gefühl, dass al-Dschasira mit seiner Berichterstattung dazu
unsere Werte unterstützt." Diese positive Wahrnehmung habe auch auf den
englischen Arm des Senders abgestrahlt, der im Westen zunehmend als
verlässliche Quelle für gute, richtige Berichterstattung wahrgenommen
wurde.
Dennoch ist auch 2011 die Kritik an der Verbindung al-Dschasiras mit dem
Herrscherregime in Katar nicht verstummt. Einige Beobachter meldeten
besorgt an, al-Dschasira sei politischer Player bei der Revolution in der
Region gewesen. Oft wurde sich darüber mokiert, wie wenig al-Dschasira über
die Aufstände in Bahrain berichtet hatte, ein Land, mit dem sich das
Königreich Katar ungern anlegen möchte.
## Euphorische Stimmung im Newsroom
Das passt nur wenig zu dem Bild, das Al-Dschasira-Journalist Randeree von
der Arbeit in seinem Newsroom zeichnet - sein journalistisches
Selbstverständnis scheint durchdrungen von dem angelsächsischen Prinzip.
"Ich bin nur Beobachter, es ist nicht meine Aufgabe, zu analysieren",
betont er wieder und wieder. Er berichte nur möglichst gründlich gecheckte
Fakten, Meinung würde für ihn keine Rolle spielen.
Und gibt doch zu, dass er und seine Kollegen in der Hochphase des
Arabischen Frühlings geradezu vor den Rechnern geklebt haben, sich in
10-Stunden-Schichten kaum von den Bildschirmen wegbewegten und wie
euphorisch die Stimmung nach dem Rücktritt von Ägyptens Präsident Husni
Mubarak im Februar in seinem Newsroom in Doha gewesen sei.
Forscherin Richter hingegen differenziert: Natürlich könne man fragen, ob
al-Dschasira zur Hochphase der Proteste in Ägypten zu wenig
Regierungsvertreter habe zu Wort kommen lassen. Aber würde man diesen
Vorwurf auch einem westlichen Sender machen? Und: Tatsächlich habe sich
al-Dschasira mit Berichten über die Aufstände in Bahrain zurückgehalten.
Aber sind die nicht auch schnell wieder unterdrückt worden?
Der englische Kanal habe während der Revolution umfassend und ausgewogen
informiert, sagt sie. Seine Stärke, näher an den Geschehnissen dran zu sein
als andere Medien, ausgespielt. "Der Sender hat so gut wie alles richtig
gemacht", sagt Richter. Aber sie warnt auch: "Die Marke al-Dschasira steht
jetzt sehr stark unter Beobachtung des Westens." Sobald in dessen Augen zu
viele Islamisten zu Wort kommen, könnte sich das schnell ändern. "Der
Sender kann momentan eigentlich nur verlieren."
27 Dec 2011
## AUTOREN
Meike Laaff
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