# taz.de -- Tunesien ein Jahr nach Ben Ali: Unerfüllte Hoffnungen | |
> Ein Jahr nach dem Sturz von Ben Ali hat sich für viele Tunesier wenig | |
> verbessert. Die neue islamistisch geführte Regierung erweckt bei | |
> Demokraten wenig Vertrauen. | |
Bild: 14. Januar 2011, der Tag, an dem Ben Ali stürzte. Ob diese Demonstrantin… | |
MADRID taz | Lina Ben Mhenni ist zurück. Die junge Bloggerin reist ein Jahr | |
nach der Revolution in Tunesien erneut durchs Landesinnere, wo die | |
Demonstrationen, die am 14. Januar 2011 zum Sturz des Diktators Zine | |
el-Abidine Ben Ali führten, begannen. Sie besucht Sidi Bouzid, wo der | |
Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit einer Selbstverbrennung am 17. Dezember | |
2010 das Fanal für den Aufstand setzte, der den Arabischen Frühling | |
einleitete. Sie fährt nach Kasserine, wo 52 meist junge Demonstranten durch | |
die Kugeln der Polizei ihr Leben lassen mussten. | |
Was Ben Mhenni, die unter dem Namen "A Tunisian Girl" vor einem Jahr | |
unterdrückte Nachrichten, Fotos und Videos ins Netz stellte, erlebt, ist | |
mehr als ernüchternd. "Wir haben die gleichen Familien besuchen können, | |
geändert hat sich augenscheinlich nichts", resümiert sie auf ihrem Blog. | |
Das Landesinnere ist nach wie vor die ärmste Region Tunesiens. Wer hier | |
lebt, hat keine Zukunft. Knapp die Hälfte der Menschen im arbeitsfähigen | |
Alter haben keinen Job. Die islamistische Ennahda, die seit den ersten | |
freien Wahlen Ende Oktober unter Ministerpräsident Hamadi Jebali mit zwei | |
kleinen sozialdemokratischen Parteien regiert, versprach im Wahlkampf | |
600.000 Arbeitsplätze für die nächsten beiden Jahre. | |
Doch das dürfte schwierig werden. 2012 wird es wieder aufwärts gehen. Die | |
Industrie produziert zwar wieder und die Touristen kommen zurück, nachdem | |
im vergangenen Jahr 153 ausländische Firmen das Land verließen und der | |
Tourismus einbrach. Die Regierung rechnet für 2012 mit einem | |
Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent. Das ist aber bei weitem nicht genug, | |
um schnell wieder auf das vorrevolutionäre Niveau zu kommen. | |
"Die Menschen verlangen jetzt das, was ihnen für ihre Stimme versprochen | |
wurde", sagt Ben Mhenni und berichtet von erneuten Sit-ins und Blockaden | |
der Hauptverkehrsadern, nur drei Wochen nachdem Jebali sein Amt antrat. | |
Sogar zu Selbstverbrennungen kommt es wieder. Als vor einer Woche eine | |
Regierungsdelegation die Phosphatminen rund um Gafsa besuchte, steckte sich | |
ein arbeitsloser 48-jähriger Vater dreier Kinder in Brand. Er erlag am | |
Dienstag seinen Verletzungen. Fünf weitere Selbstverbrennungen wurden aus | |
anderen Städten gemeldet. Sie endeten nicht tödlich. | |
Die politische Spannung nimmt vor den Jahrestagsfeierlichkeiten am Samstag | |
zu. Angehörige der über 200 Todesopfer der Revolutionstage werden ihre | |
Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Zwar empfing Premier Jebali die | |
Mutter von Mohamed Bouazizi, doch die Entschädigungen, die eine unabhängige | |
Kommission zur Untersuchung der Repression versprochen hat, bleiben aus. | |
Selbst die Arztbehandlungen müssen viele der Hunderten von Verletzten | |
selbst bezahlen. | |
## Islamisten machen mobil | |
"Vor einem Jahr gingen die Menschen für soziale und wirtschaftliche | |
Reformen und mehr Freiheit auf die Straße und nicht für eine neue | |
Regierung, die uns erklärt, wie wir gute Muslime sind", beschwert sich Ben | |
Mhenni. Seit dem Wahlsieg Ennahdas machen vor allem gemäßigte und radikale | |
Islamisten mobil. | |
Der Chef der palästinensischen Hamas, Ismael Hanijeh, wurde von einer | |
islamistischen Kundgebung mit dem Ruf "Unsere Pflicht ist es, Juden zu | |
töten!" empfangen. Die Radikalen versuchen mutige Menschen einzuschüchtern. | |
Sie besetzen Universitäten, um das Recht für Frauen einzufordern, in | |
Ganzkörperschleiern zu studieren und in getrennten Hörsälen zu lernen. Sie | |
demonstrieren ihre Unterstützung der Regierung Jebali überall, wo es zu | |
Protesten kommt. | |
"Die alte Maschinerie funktioniert nach wie vor, nur langsamer", analysiert | |
die Bürgerrechtlerin und Journalistin Sihem Bensedrine. Wie viele sieht sie | |
die Gefahr, dass Ennahda versuchen könnte, sich der Reste der Strukturen | |
des alten Machtapparates zu bedienen anstatt ihn endgültig abzubauen. | |
Sie hat dabei vor allem die Presse im Auge, die unter Ben Ali strikt | |
zensiert wurde. Die Journalistenverbände protestierten vor dem | |
Regierungssitz, als Jebali Führungsstellen in den Staatsmedien mit engen | |
Vertrauten besetzte. Als die Polizei einschritt und Islamisten zur | |
Unterstützung der Regierung aufzogen, skandierten die Menge wie in den | |
Tagen der Revolution: "Gegen die Angst, gegen den Terror! Die Macht dem | |
Volke!" | |
14 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zehn Jahre nach dem Anschlag von Djerba: „Die Salafisten stiften Chaos“ | |
Die Juden von La Goulette wohnen seit Jahrhunderten mit Christen und | |
Muslimen zusammen. Doch Islamisten bedrohen die Weltoffenheit des | |
tunesischen Badeortes. | |
Neue Verfassung in Tunesien: "Jetzt fällt die Maske" | |
Die Trennung von Staat und Religion ist für die Ennahda-Partei ein Angriff | |
auf das „islamische Denken“. Der Streit um die neue Verfassung eskaliert. | |
Ein Jahr arabischer Frühling: "Frauen standen an vorderster Front" | |
Iman Bugaighis war die Sprecherin des Nationalen Übergangsrats in Libyen. | |
Jetzt erinnert sie sich an die Revolution vor einem Jahr. Und hofft auf | |
Demokratie | |
Kommentar Arabische Revolutionen: Revolution in der Armutsfalle | |
Vor einem Jahr stürzte der tunesische Diktator Ben Ali. Jetzt zeigt sich, | |
dass ohne die Bekämpfung der Armut keine Demokratie entstehen kann. | |
Debatte Arabische Revolutionen: Revolutionen blühen nicht | |
Nun verlieren auch freudige Beobachter des Arabischen Frühlings die Geduld | |
mit den harten Kämpfen für Demokratie. Warum nur? | |
Ein Jahr nach Beginn der Arabellion: Wieder Selbstverbrennungen in Tunesien | |
Ein Familienvater starb, nachdem er sich selbst angezündet hatte. Er wollte | |
gegen die Arbeitslosigkeit protestieren. Insgesamt wurden fünf | |
Selbstverbrennungen aus ganz Tunesien gemeldet. | |
Streit der Woche zur arabischen Revolution: Sind Frauen die Siegerinnen? | |
Vor einem Jahr vertrieben die Tunesier ihren Präsidenten Ben Ali. Seitdem | |
rebellieren arabische Frauen und Männer gegen Missstände und Unmündigkeit. | |
Debatte Arabische Revolution: Demokratie und Islam | |
Weder kommen die arabischen Demokratiebewegungen aus dem Nichts noch ist | |
ihr Verlauf überraschend. Denn entscheidend für den Erfolg ist die | |
jeweilige Militärkultur. |