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# taz.de -- Zehn Jahre nach dem Anschlag von Djerba: „Die Salafisten stiften …
> Die Juden von La Goulette wohnen seit Jahrhunderten mit Christen und
> Muslimen zusammen. Doch Islamisten bedrohen die Weltoffenheit des
> tunesischen Badeortes.
Bild: Aufräumarbeiten nach dem Anschlag: die La-Ghriba-Synagoge.
TUNIS taz | Die Vögel haben Frühlingsgefühle. Sie fliegen in großen
Schwärmen über den Hafen von La Goulette zur anderen Seite der Lagune. Der
Vorort von Tunis mit dem weitläufigen öffentlichen Strand und dem alten
Hafen gehört jetzt ganz seinen Bewohnern. In den Sommernächten lebt La
Goulette auf, seine Fischrestaurants sind legendär.
Dabei hat das Viertel nichts vom Glanz der südlichen Nachbarviertel
Karthago oder Gammarth, wo die Reichen wohnen. Schlichte, manchmal
heruntergekommene Häuser, denen die Feuchtigkeit graue Flecken malt. La
Goulette, das sind zwei Parallelstraßen, die durch kleine Stichwege
verbunden sind. Der Ort ist Mythos: des schmackhaften Fisches wegen, mehr
noch wegen seiner multireligiösen Bevölkerung, seines mediterranen Flairs,
seiner Offenheit.
Hier leben seit Generationen Christen, Juden und Muslime. Vor den 1960er
Jahren gab es hier eine Moschee, eine Kirche, 14 Synagogen. 80 Prozent der
Bevölkerung waren jüdisch. „Hier fühle ich mich wohl, hier treffe ich meine
alten Schulfreunde“, sagt der Präsident der jüdischen Gemeinde, Roger
Bismuth. Der dynamische 86-Jährige sitzt in seinem Büro, hier in La
Goulette ist er geboren und aufgewachsen.
Seit zehn Jahren steht er der jüdischen Gemeinde vor. „Ich hatte meinen
tunesischen Traum“, sagt er. Der gelernte Maurer hat sich hochgearbeitet
zum Unternehmer. Englisch hat er sich selbst beigebracht. Die
Weltoffenheit, diese großzügige Aufgeklärtheit, ist häufig anzutreffen in
seiner Generation, die 1956 die Unabhängigkeit Tunesiens und die junge
Republik miterlebt hat. „Ich habe es satt, gefragt zu werden: Bist du
Christ, Jude oder Muslim? Ich frage keinen. Die Konfession interessiert
mich nicht.“ Bismuth ist trotzdem stolz, Jude zu sein: „Ich habe nie meine
jüdische Identität geleugnet, auch nicht zur Zeit der deutschen Okkupation
vom November 1942 bis zum Mai 1943.“
## „Die Reichen brauchen mich nicht“
Roger Bismuth kümmert sich vor allem um soziale Angelegenheiten. Er kennt
die Geburtenzahlen auf der Ferieninsel Djerba, wo schon immer die größte
jüdische Gemeinde Tunesiens wohnte, und er kennt die Sterbeziffern in
Tunis, wo fast nur noch Alte leben. „Ich kümmere mich um die Armen, die
Alten. Die Reichen brauchen mich nicht.“
Die Zahl der Juden, die vor 1948 noch rund 7 Prozent der Bevölkerung
ausmachten, ist seit der Staatsgründung Israels und dem Sechstagekrieg 1967
kontinuierlich gesunken. Viele verließen Tunesien wegen der schlechten
wirtschaftlichen Lage. Heute leben bei insgesamt 10 Millionen Einwohnern
noch rund 800 Juden im Großraum Tunis und rund 1.000 auf der Insel Djerba
im Süden, wo sich mit der La-Ghriba-Synagoge eine wichtige Pilgerstätte
befindet. Sie gilt als die älteste erhaltene Synagoge in Nordafrika und
wurde am 11. April 2002 Ziel eines Anschlags von al-Qaida. 21 Menschen
starben.
Zu den Wahlen im Herbst 2011 wollten Vertreter aller Parteien mit dem
Präsidenten der jüdischen Gemeinde sprechen, auch die islamische Ennahda.
Bismuth hat sich mehrmals mit ihnen getroffen – mit Wohlgefallen. „Die
jetzige Regierung unternimmt viel für die ganze Bevölkerung. Ich bin sehr
zufrieden. Doch vor allem die Salafisten stiften Chaos. Im Moment sehe ich
keine große Gefahr, aber man muss wachsam sein und vor allem die Vorfälle
benennen.“
So rief bei einer Demonstration im Zentrum von Tunis ein Prediger vor
Hunderten Jugendlichen: „Los, ihr jungen Leute, trainiert für den Kampf
gegen die Juden, für den Kampf zu Ehren Gottes. Paradies, Paradies,
Paradies!“, berichtet Bismuth. „Die Demonstranten antworteten: Gott ist
groß!“
Die Regierung sowie mehrere Parteien hätten die Salafisten dafür scharf
kritisiert. Die an der Regierung beteiligte islamische Partei Ennahda
erklärte, die tunesischen Juden seien gleichberechtigte Bürger. „Ich habe
beim Staatsanwalt eine Klage gegen den Prediger eingereicht“, sagt Bismuth.
## „Besser aufgehoben als in Israel“
Den Vorschlag des israelischen Vizepremierministers Silvan Schalom, die
tunesischen Juden sollten nach dem Wahlsieg der Islamisten nach Israel
auswandern, weist Bismuth empört zurück. „Hier sind sie wesentlich besser
aufgehoben als in Israel. Dort wären diese Menschen ohne Arbeit. Die
Gemeinde auf Djerba, das sind Großenteils Schmuckhändler, die dort ihr
Auskommen haben. Warum sollten die nach Israel?“
Bismuth antwortete dem in Tunesien geborenen Schalom, er solle sich um die
Angelegenheiten Israels kümmern und die Tunesier ihre Angelegenheit selbst
erledigen lassen. Und der neue tunesische Staatspräsident Moncef Marzouki
forderte postwendend alle ausgewanderten Juden auf zurückzukommen.
David Cohen kommt aus Djerba und hilft im Kiosk seines Onkels in La
Goulette aus. Auf Djerba war der 23-jährige Informatiker arbeitslos. Tunis
gefalle ihm ohnehin besser, weil es nicht so konservativ sei. Doch
eigentlich will er wie sein Bruder nach Frankreich. Israel, wo seine
Schwester lebt, scheint ihm weniger attraktiv. „Zu unsicher.“ Alte
Filmplakate hängen über der Ladentheke, neben Familienfotos, verstaubten
Taschen und Alltagskram. David zeigt stolz auf ein Bild von Claudia
Cardinale. Sie ist hier geboren, sie war der Star von La Goulette.
Der Film „Ein Sommer in La Goulette“ mit der Cardinale in einer Nebenrolle
setzt dem Zusammenleben von Juden und Muslimen am Vorabend des
Sechstagekrieges zwischen Ägypten und Israel ein Denkmal: Drei Freundinnen,
eine Katholikin, eine Jüdin, eine Muslimin, pfeifen auf die Religion und
wollen ihre Jungfräulichkeit opfern. Der Film zeigt Abgrenzung, aber vor
allem die Verbundenheit der religiösen Gruppen. Er zeigt aber auch, wie
politische Ereignisse das Zusammenleben bedrohen.
## Nicht als Jude zur Wahl angetreten
In der Avenue Pasteur 14 in La Goulette liegt das koschere Restaurant Mamie
Lily. Jacob Lellouche ist der Betreiber, seine 84-jährige Mutter Lily „der
Chef“. Sechs Tische, Wohnzimmeratmosphäre mit Mama Lily am Ecktisch, Fotos
an den Wänden: Lily als kleines Mädchen am Strand, Lily mit ihren Kindern
beim Picknick. Hier wird koschere jüdisch-tunesische Hausmannskost geboten:
Couscous mit Kutteln beispielsweise, zur Verdauung eine Boukha, tunesischer
Feigenschnaps. Selbst der Wein, ein saurer Rosé, ist koscher.
Jacob Lellouche hat bei Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im
vergangenen Herbst kandidiert. Er selbst wurde nicht gewählt, aber ein
anderes Mitglied seiner multireligiösen Wählergruppe – eine Gruppe von
Freunden, die sich engagieren wollen. Lellouche hat sich nicht als Jude
aufstellen lassen, sondern als progressiver tunesischer Bürger. „Die
Geschichte mit dem einzigen Juden, der kandidierte, das haben die Medien
daraus gemacht“, sagt er.
Der lebenslustige Jacob Lellouche sorgt sich mehr um die Rechte der Frauen
als um den Status, jüdisch zu sein. Doch er fördert auch die Erinnerung an
die jüdische Geschichte Tunesiens. Er ist Mitgründer der Gesellschaft „Dar
el Dhekra“, zu Deutsch „Haus der Erinnerung“, die Ausstellungen,
Konferenzen und Lesungen organisiert. „Die Laizität ist Grundlage der
Demokratie. Aber wir leben auch die Tradition unserer Religion“, erklärt
Lellouche.
Es beunruhigt ihn, dass vor ein paar Wochen bei einem offiziellen Besuch
eines palästinensischen Führers aus Gaza „Tod den Juden“ gerufen wurde.
„Das waren die Salafisten“, sagt er. Alle Juden waren geschockt, als die
Offiziellen sich nicht sofort davon distanzierten. „Ich lebe gern in
Tunesien. Ich liebe das Land. Aber es tut mir weh, so etwas zu hören, was
ich hier noch nie, gar nie gehört habe.“
10 Apr 2012
## AUTOREN
Edith Kresta
Edith Kresta
## TAGS
Tunesien
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