# taz.de -- Debatte Arabellion: „Ich erstatte Anzeige“ | |
> Ausgerechnet in dem Land, in dem die Arabellion begann, ist die | |
> Konterrevolution im vollen Gange. Wesentlicher Teil davon sind | |
> salafistische Angriffe auf Juden. | |
Bild: Die Polizei versucht in Tunis Demonstranten zurückzudrängen. | |
Ich erstatte Anzeige. Ich erstatte Anzeige gegen diejenigen, die auf der | |
Avenue Habib Bourguiba zum Mord an den Juden aufgerufen haben. Es ist nicht | |
das erste Mal, dass ich Opfer rassistischer Angriffe wurde. Doch bislang | |
entschied ich mich gegen eine Anzeige, in der Annahme, es handle sich bei | |
den Tätern um junge, unwissende Menschen. | |
Inzwischen hat sich die Lage verändert: Der Antisemitismus ist in Tunesien | |
zu einer politischen Bewegung geworden. Der Aufruf zum Mord an den Juden | |
ist die Basis seiner Propaganda. Die neuen Antisemiten melden sich immer, | |
immer wieder zu Wort. | |
Ich erstatte Anzeige, denn diese Mordaufrufe haben nichts mit dem Gefühl | |
der tunesischen Bürger oder ihrer Einstellung zu der jüdischen Minderheit | |
zu tun. Sie dienen allein dazu, die Konterrevolution zu etablieren, im | |
Namen einer sogenannten Ordnung, die die aktuelle Regierung noch nicht | |
herstellen kann. | |
Um die aufgeladene Situation heute zu verstehen, lassen Sie mich kurz die | |
Ereignisse des letzten Jahres rekapitulieren. | |
## Ausschluss der Revolutionäre | |
Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali im vergangenen Jahr fiel das Land | |
zunächst in die Hände von Persönlichkeiten des alten Regimes. Die taten | |
sich mit einzelnen Personen aus der Opposition zusammen, auch aus Mangel an | |
politischen Köpfen, die die Revolution hätten anführen können. | |
Doch die Proteste auf der Straße veränderten die Situation: Sie übten | |
nachhaltig Druck auf die wenig revolutionäre Übergangsregierung unter dem | |
damals 84-jährigen Ministerpräsidenten Béji Caid Essebi aus. | |
Essebi war immer der Mann der alten Mächte, der konservativen Bourgeoisie, | |
und bemühte sich darum, den alten Parteigängern Ben Alis nicht allzu sehr | |
zu schaden. Das wurde von der Straße aufmerksam beobachtet. | |
## Fast vollständig ausgegrenzt | |
Die jungen Menschen, die die Revolution in Gang gesetzt hatten, wurden im | |
Laufe dieses politischen Prozesses aus Mangel an Erfahrung in Politik und | |
Organisation von den Wahlen quasi komplett ausgegrenzt. | |
Ohne Rücksicht auf die wenig stabile Situation, ohne repräsentative | |
politische Parteien, bereitete Essebis Übergangsregierung die Wahlen zur | |
Verfassungsgebenden Versammlung vor. Das Resultat: Nahezu 51 Prozent der | |
potenziellen Wähler enthielten sich der Stimme, und 30 Prozent votierten | |
für Parteien, die gerade erst gegründet worden waren und nur über geringe | |
finanzielle Mittel verfügten. | |
Diese Ausgrenzung der Revolutionäre aus dem politischem Prozess führte zu | |
einer Teilung der Gesellschaft: auf der einen Seite diejenigen, die von der | |
Revolution die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Bedürfnisse erwarteten, sich | |
aber nicht politisch einbringen konnten. Auf der anderen Seite diejenigen, | |
die nun direkt am politischen Verfahren teilnehmen konnten. | |
## Das Versagen der Gemäßigten | |
Dazu gehörten erstmals auch die Islamisten der Partei Ennahda, die lange im | |
Schatten des alten Regimes arbeiten mussten und massiven Repressionen | |
ausgesetzt waren. Sie gingen bekanntlich als Sieger der Wahlen hervor, | |
gestärkt auch durch die große finanzielle Unterstützung der Golfstaaten. | |
Die neue Regierung besteht nun aus drei Parteien: der islamischen Ennahda | |
mit 89 Sitzen, der Partei Ettakattol und dem Congrès pour la République mit | |
zusammen über 120 Sitzen. Alle anderen Parteien zogen es vor, in die | |
Opposition zu gehen. Ihre Entscheidung stärkt die Zivilgesellschaft und | |
bindet sie an die offizielle Politik. | |
Gleichzeitig nehmen die Provokationen der Salafisten in dieser Zeit immer | |
mehr zu. An den Universitäten wurden die Studentinnen angehalten, sich zu | |
verschleiern, die literarische Fakultät in Manouba wurde gänzlich von den | |
Salafisten besetzt, die auf den Straßen demonstrierende Künstler und | |
Intellektuelle angriffen und zum Judenmord aufriefen. | |
Zwischen all diesen Provokationen scheinen sich die Kader der alten | |
Ben-Ali-Partei, der RCD, unter anderen Flaggen neu zu organisieren. Ihre | |
über Jahrzehnte hinweg bewährte Taktik, sich als Bollwerk schlechthin zum | |
Islamismus zu inszenieren, hat auch heute nicht wenig Erfolg. Nur allzu | |
gern wollen viele der säkularen Propaganda Glauben schenken. | |
## Rassenfeindlichkeit und Mord | |
Leider vermag die aufgeklärte islamistische Bewegung den alten, | |
antidemokratischen Autoritäten nur wenig entgegenzuhalten. Sie ist unfähig | |
gegen die Manöver der alten Kräfte klar Stellung zu beziehen. Denn sie ist | |
geschwächt durch die Unstimmigkeiten und Unentschiedenheit innerhalb der | |
eigenen Reihen, durch ihre Unerfahrenheit in Sachen Macht und | |
Regierungsverantwortung und auch wegen ihrer Paranoia aufgrund der | |
jahrzehntelangen Verfolgung. | |
So werden von der Regierung Aufrufe zur Rassenfeindlichkeit und zum Mord | |
toleriert – ohne jegliches Einschreiten. Veröffentlicht aber ein Journalist | |
ein „unanständiges“ Foto, so kann er sicher sein, dass er binnen 24 Stunden | |
inhaftiert wird. | |
Gegenüber Journalisten oder der Gewerkschaft UGTT lässt sich die Regierung | |
immer mehr zuschulden kommen. Friedliche Demonstrationen der | |
Zivilgesellschaft wurden jüngst aggressiver denn je unterbunden. | |
## Anzeige gegen Judenhetzer | |
Ich erstatte Anzeige gegen die Judenhetzer als tunesischer Staatsbürger, | |
der all den Mitbürgern solidarisch gegenübersteht, die zu Unrecht | |
angegriffen wurden. | |
Ich erstatte Anzeige, weil ich nicht will, dass die Vergangenheit meines | |
Landes mit seiner jahrtausendealten Zivilisation, die sich durch Toleranz | |
und das gute Miteinander auszeichnete, beschmutzt wird. | |
Ich erstatte Anzeige im Namen der Revolution, die durch ihre Offenheit und | |
ihren pazifistischen Geist die ganze Welt berührte. Und die nun bedroht ist | |
durch Unverantwortliche, die unsere Revolution und unser Streben nach | |
Freiheit als Blasphemie deklarieren. | |
Und schließlich erstatte ich Anzeige, weil diese Salafisten, die | |
Initiatoren solcher menschenverachtenden Aufrufe und Übergriffe, auch die | |
erklärten Gegner der Frauen, der Künstler, ja aller Kreativen und Denker | |
sind. | |
Aus dem Französischen übersetzt von Noura Mahdhaoui | |
8 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Gilbert Naccache | |
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Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
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