# taz.de -- Politiker über tunesische Situation: "Tunesien wird die Welt verä… | |
> Die Probleme sind riesig, und die Konterrevolution ist in vollem Gange. | |
> Trotzdem wird das tunesische Modell zeigen, dass Islam und Demokratie | |
> vereinbar sind, meint Politiker Jafaar. | |
Bild: Mustafa Ben Jaafar im Gespräch mit Tunesiens Präsident Moncef Marzoukii. | |
taz: Herr Jafaar, Sie haben diese Woche auf Einladung der | |
Friedrich-Ebert-Stiftung im Berliner Reichstag zu den Abgeordneten | |
gesprochen. Warum ist Deutschland für Tunesien so wichtig? | |
Mustafa Ben Jaafar: Tunesien befindet sich in einem kritischen Übergang. | |
Wir sind dabei, eine Demokratie aufzubauen, aber wie nach jeder Revolution | |
ist auch die Konterrevolution in vollem Gange. Daher ist die Beziehung zu | |
Deutschland und auch Europa insgesamt sehr wichtig für uns Demokraten. Wir | |
vertrauen auf unsere Stärke, aber wir brauchen auch die Unterstützung von | |
den Ländern, die Sympathie für unsere Revolution gezeigt haben. | |
Meinen Sie ökonomische Unterstützung? | |
Eine Zusammenarbeit mit Europa ist für uns von großem wirtschaftlichem | |
Interesse, aber wir hoffen auch auf eine Partnerschaft auf Augenhöhe, die | |
uns Impulse gibt, den demokratischen Prozess, die Rechte der Frauen und die | |
Freiheit fest zu verankern. Wir haben eine Assoziation mit der EU, und wir | |
hoffen, dass wir den vollen "privilegierten Status" erhalten und dadurch | |
bessere Handelsbedingungen. | |
Wie sind die ökonomischen Beziehungen zu Deutschland? | |
Es gibt 274 deutsche Firmen in Tunesien, die mehr als 50.000 Tunesier | |
beschäftigen. Deutschland hat uns großzügig bei der Umschuldung geholfen. | |
Wie steht die tunesische Wirtschaft da? | |
Das alte Regime hat uns 800.000 Arbeitslose und 200.000 diplomierte | |
jugendliche Arbeitslose hinterlassen. 1.200.000 Menschen leben in prekären | |
Situationen. Wir müssen unser Ausbildungssystem an die Erfordernisse des | |
Arbeitsmarktes anpassen, und wir müssen Unternehmen dazu ermutigen, bei uns | |
zu investieren. | |
Gibt es konkrete Maßnahmen für das verarmte Landesinnere? | |
Unser Aktionsplan sieht vor, ein Maximum im Landesinneren zu investieren. | |
Diese Region wurde in den letzten 20 Jahren völlig vernachlässigt. Wir | |
wollen dort Arbeitsplätze schaffen | |
Aber wie? | |
Durch große Investitionen in die Infrastruktur des Landesinneren. Wir | |
wollen dort langfristig Industrie ansiedeln, die zu diesen Regionen passt, | |
beispielsweise im alternativen Energiesektor. Wir stellen Mittel zur | |
Verfügung, um Beschäftigung zu schaffen, auch im öffentlichen Dienst. Aber | |
Sie dürfen nicht vergessen, wir von der verfassunggebenden Versammlung sind | |
nur für ein Jahr im Amt, und wir haben keinen Zauberstab, um alles sofort | |
zu verändern. Wir wurden gewählt, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. | |
Die islamische Partei Ennahda hat in der verfassunggebenden Versammlung 40 | |
Prozent der Sitze, also stellt ihre Partei Ettakatol mit dem Kongress für | |
die Republik die Mehrheit. | |
Ja, für uns Säkulare ist das eine bequeme Situation. An der Spitze der | |
Regierung stehen drei Parteien, zwei säkulare und die islamische Ennahda. | |
Und wir sind uns einig, dass die dringendsten Probleme unseres Landes die | |
soziale Situation und die Sicherheit sind. | |
Welche Veränderung der Verfassung wollen Sie, welche fürchten Sie? | |
Zunächst einmal wollen wir alle sozialen Errungenschaften, vor allem die | |
Freiheit der Frau, erhalten. Wir wollen sie so festschreiben, dass sie auch | |
in Zukunft nicht antastbar sind. Und es gibt die Diskussion über das | |
politische System, ob wir eine präsidiale Demokratie oder ein | |
parlamentarische Demokratie einsetzen wollen. | |
Wird es Veränderungen im Familienrecht geben, im Erbrecht? | |
Was das Familienrecht angeht, setzen wir alles daran, dass der Code du | |
Statut Personnel erhalten bleibt und weiterentwickelt wird. Was das | |
Erbrecht angeht (Frauen erben nur ein Viertel), das ist sehr speziell, den | |
es bezieht sich in Teilen auf eine bestimmte Auslegung des Korans. Da | |
müssen wir kämpfen, dass für die Zukunft die Gleichheit zwischen Mann und | |
Frau auch in Erbschaftsfragen festgeschrieben wird. Das ist ein Tauziehen. | |
Wenn Sie das postrevolutionäre Tunesien mit Ägypten vergleichen … | |
… dann bin ich für Tunesien optimistisch. Es gibt sehr viele Unterschiede | |
zwischen unseren beiden Ländern, auch wenn der Wunsch der Menschen, die für | |
Veränderung kämpfen, in die gleiche Richtung geht. Der Veränderungsprozess | |
in Tunesien steht auf einer solideren Basis. Vor allem ist die tunesische | |
Armee eine wirklich republikanische Armee, sie hat die Revolution | |
geschützt, sie hat Blutvergießen verhindert. In Ägypten ging der Umsturz | |
sehr schnell, aber wie es scheint, regieren dort alte Machtkonstellationen | |
und militärische Eigeninteressen. | |
Wird sich Libyen im Übergang an Tunesien orientieren? | |
Wir haben nicht die Absicht, unsere Revolution zu exportieren, aber es ist | |
klar, dass ein Erfolg des tunesischen Modells starken Nachhall in der | |
ganzen arabischen Welt haben wird. Es wird sich zeigen, dass Islam und | |
Demokratie sich nicht ausschließen, wie es die Diktatoren ewig verkündeten. | |
Sie malten das Schreckgespenst Islam an die Wand und erhielten damit die | |
bedingungslose Unterstützung des Westens. Die Botschaft des tunesischen | |
Modells dürfte also auch die Beziehungen zwischen Europa und der arabischen | |
Welt verändern. | |
Der israelische Vizepremierminister hat die tunesischen Juden aufgefordert, | |
das Land zu verlassen. Was halten Sie davon? | |
Viele Äußerungen israelischer Politiker verstärken den Eindruck, dass | |
Israel Angst vor der Demokratie in arabischen Ländern hat. Juden und | |
Muslime haben in Tunesien immer gut zusammengelebt. Dass die Regierung nun | |
von der islamischen Ennahda angeführt wird, ändert daran gar nichts. | |
Auch nicht an den Bikinis an Tunesiens Stränden? | |
Das sind alles Phantasmen. Vor einer Woche hatten wir ein Seminar mit | |
internationalen Reiseveranstaltern. Der Chef der Regierung, Hamadi Jebali | |
von Ennahda, hat genau wie ich versichert, dass die einzige Veränderung ein | |
qualifizierterer und diversifizierter Tourismus sein wird. Allen Liebhabern | |
von Tunesien kann ich versichern, dass sie gefahrlos massenhaft zu uns | |
kommen können. | |
12 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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