| # taz.de -- Jahrestag Revolutionsbeginn in Libyen: Hormone und Waffen | |
| > Es herrscht eine zerbrechliche Machtbalance in Libyen, Ehre geht | |
| > bisweilen vor Gesetz. Und Macht hat, wer am meisten Feuerkraft besitzt. | |
| Bild: Diese Woche feiern sie sich und ihre Revolution in Tripolis. | |
| TRIPOLIS taz | Auf dem ehemaligen Grünen Platz, dort, wo Muammar al-Gaddafi | |
| seine letzte Rede gehalten hat und der inzwischen Platz der Märtyrer heißt, | |
| mischen sich männliche Hormone und schwere Waffen zu einer explosiven | |
| Mischung. Hunderte von Pick-ups mit aufgepflanzten Maschinengewehren und | |
| Pkws mit Männern, die mit ihren Kalaschnikows winken, haben sich zu einer | |
| bizarren Parade zusammengefunden. | |
| Es ist eine wilde Mischung aus Che Guevara, Prophetenbärten und | |
| glattrasierten Gesichtern mit militärischen Kurzhaarschnitten. Manche der | |
| Männer liegen auf den Rohren der auf den Fahrzeugen montierten | |
| Flugabwehrgeschützen, die sie wie ein Karussell drehen, bis ihnen | |
| schwindlig wird. Bereits die ganze Woche feiern sie schon den Beginn des | |
| Aufstandes gegen Gaddafi, der vor einem Jahr begonnen hat. Der eigentliche | |
| Jahrestag wird an diesem Freitag begangen. | |
| Einem Auswärtigen vermitteln diese Paraden nicht gerade ein Gefühl der | |
| Sicherheit. Aber viele Passanten stehen am Rand und feiern mit, feuern den | |
| Triumphzug mit einem "Gott ist groß"-Ruf an. In der Omar-Mukhtar-Straße ein | |
| paar hundert Meter weiter will eine Familie in einem Spielzeugladen einen | |
| fahrbaren Untersatz für den Sprössling kaufen und sucht zwischen | |
| pinkfarbenen Dreirädern und metallicglänzenden Rollern das Richtige aus, | |
| ohne die waffenstrotzende Revolutionsparade überhaupt zur Kenntnis zu | |
| nehmen. Alltag in Tripolis. | |
| Der regierende Übergangsrat hat Feuern in die Luft strengstens untersagt. | |
| Doch das wird ignoriert. Die Bewaffneten schießen aus allen Rohren mit | |
| ihren Kalaschnikows und sogar mit den Luftabwehrgeschützen. Viele der | |
| waffenstrotzenden Rebellen kommen nicht aus der Hauptstadt, sondern aus | |
| Sintan oder Misurata. | |
| Mit ihrem Auftreten unterstreichen sie, dass die neuen Herrscher des Landes | |
| ihre Interessen zur Kenntnis nehmen müssen. Es herrscht eine zerbrechliche | |
| Machtbalance in Libyen, die auch darauf aufgebaut ist, wer am meisten | |
| Feuerkraft besitzt. Macht ist derzeit in Libyen ein begrenztes Gut. | |
| Nach den neuesten Meinungsumfragen sind die meisten Libyer trotz des Chaos | |
| mit der Zeit nach Gaddafi zufrieden, wenngleich immer noch Sorge herrscht, | |
| dass das alte Regime in irgendeiner Form zurückkommen könnte. Deren | |
| einstige Anhänger verhalten sich still. Nur manchmal setzen sie kleine | |
| Zeichen, dass es sie noch gibt. Ein mit Gas gefüllter Ballon steigt über | |
| den Häusern unweit des Zentrums von Tripolis auf. Eigentlich nichts | |
| Besonderes, wäre er nicht grün, die Farbe Gaddafis und seiner Anhänger. Hat | |
| sich hier jemand einen Scherz erlaubt oder ist das ein Statement? | |
| "Diese Hundesöhne", flucht der Fahrer, der wohl eher an Letzteres glaubt. | |
| Die Revolutionäre würden das Viertel gleich durchkämmen, kündigt er an. | |
| Sie sind überall, haben an den großen Einfahrtsstraßen Straßensperren | |
| errichtet, nicht, um ernsthaft Fahrzeuge untersuchen, sondern eher, um | |
| Präsenz zu zeigen. Man weiß schließlich nie. Gerade hat ein Sohn Gaddafis, | |
| Saadi, im benachbarten Niger angekündigt, einen Aufstand gegen die | |
| einstigen Aufständischen anzuzetteln. | |
| ## Neues Zuhause in den Ruinen Gaddafis | |
| Während die einen in dem ölreichen Land um Macht und Einfluss ringen, | |
| kämpfen anderen um das tägliche Überleben. Die Armen sammeln sich unter | |
| anderem in Bab al-Asisija, der einstigen, fast völlig zerstörten Festung | |
| Gaddafis in Tripolis. Al-Hadi al-Schawesch ist einer dieser Hausbesetzer | |
| der besonderen Art. Mitten in den Ruinen, dort, wo früher Gaddafis | |
| Offiziere hinter dicken Mauern lebten, bezieht seine neunköpfige Familie | |
| ihr neues Zuhause. | |
| 400 Meter Stromkabel hat er von draußen gezogen, erzählt er. Einen | |
| Wasseranschluss für die Küche gibt es noch nicht. Aber die rußgeschwärzten | |
| Wände des ausgebrannten Gebäudes hat er bereits gestrichen. "Miete zu | |
| zahlen kann ich mir mit meinen Monatsverdienst im Krankenhaus nicht | |
| leisten", sagt er. Umgerechnet bringt er 350 Euro mit nach Hause. Was | |
| brauche man mehr als ein Dach über dem Kopf, Strom und Wasser? "Wenn sich | |
| die Lage im Land verbessert, bekomme ich vielleicht von der Regierung ein | |
| Haus", hofft er. | |
| Natürlich sei es etwas unheimlich, in den Ruinen des Herzstücks des alten | |
| Systems zu wohnen, wo sich nachts allerlei Diebe draußen herumtreiben. Auch | |
| Prostituierte gehen in der Nachkriegs-Mondlandschaft ihren Geschäften nach. | |
| In einem Flüchtlingslager am Rande von Tripolis, umgeben von Mauern und | |
| Zäunen, haben die Bewohner ganz anderes Probleme als die Hausbesetzer von | |
| Bab al-Asisija. In den Baracken leben Menschen aus Tawargha, Libyer, deren | |
| Vorfahren Sklaven aus den Ländern südlich der Sahara waren. | |
| Schwarzafrikaner wurden während des Krieges pauschal für Söldner Gaddafis | |
| gehalten, willkürlich festgenommen, gefoltert und in manchen Fällen | |
| getötet. | |
| Aus Tawargha stammen viele Anhänger Gaddafis, die damals die Hafenstadt | |
| Misurata angegriffen haben. Sie waren berüchtigt für ihre Brutalität, mit | |
| der sie im Namen des Regimes gegen die Aufständischen vorgegangen sind. Im | |
| neuen Libyen sind sie so etwas wie Vogelfreie. | |
| ## "Wir sind hier eingesperrt" | |
| "Die Rebellenmilizen fallen immer wieder in das Lager ein und nehmen | |
| willkürlich Menschen fest", erzählt Gumaa Jera, einer der Flüchtlinge im | |
| eigenen Land. "Wenn wir das Lager verlassen, dann laufen wir Gefahr, | |
| gefangen genommen zu werden. Sie entführen uns und bringen uns an | |
| unbekannte Orte, meist nach Misurata selbst." Oft höre man nie wieder von | |
| denen, die rausgegangen und nicht mehr zurückkommen seien. Manubia Saleh, | |
| eine ältere Frau, gesellt sich hinzu. | |
| Sie zieht ihren Umhang über dem Kopf tiefer ins Gesicht. "Das ist ein | |
| miserables Leben hier. Es ist zum Heulen", klagt sie. "Wir sind hier | |
| eingesperrt wie Gefangene. Wenn du rausgehst, ist das, als betrittst du | |
| besetztes Gebiet. Und dann kommen sie immer hier rein und nehmen einfach | |
| mit, was sie wollen." | |
| Ein paar Kilometer vom Lager entfernt fährt Aiman Machsoum Patrouille. Er | |
| ist einer der Rebellen aus Misurata, der jetzt in die neu gebildete Armee | |
| integriert wurde. Wenn er nur das Wort Tawargha hört, verzieht sich sein | |
| Gesicht vor Wut. "Mit denen kann es keine Aussöhnung geben. Sie haben | |
| gebrandschatzt, vergewaltigt und gemordet", erklärt er. Manche von ihnen | |
| hätten den Frauen einfach die Ohren abgeschnitten, um an ihre goldenen | |
| Ohrringe zu kommen, sagt er weiter. "Aber vor allem bei den | |
| Vergewaltigungen geht es um unsere Ehre. Das hatte nichts mit dem Krieg | |
| oder der Front zu tun. Das war keine willkürliche Aktion, sondern eine | |
| beabsichtigte, systematische Operation. Jetzt herrscht eben zunächst einmal | |
| das System der Blutrache", beharrt er. | |
| Die Lösung des Problems sei schwer und leicht zugleich, meint sein Kollege | |
| Saleh. "Schwer, weil es hier um die Ehre geht, leicht, weil die Tawargha | |
| einfach nur diejenigen ausliefern müssen, die das getan haben, damit nicht | |
| alle bestraft werden", erläutert er. | |
| Statt einer Kollektivstrafe für alle Menschen aus Tawargha müssten sich die | |
| Gerichte mit dem Fall beschäftigen. Wer getötet und vergewaltigt hat, | |
| sollte bestraft, der Rest der Tawargha aber entlastet und freigesprochen | |
| werden. Doch die Gerichte befinden sich, wie alle Institutionen in Libyen, | |
| bestenfalls im Aufbau. Muammar al-Gaddafi ist tot. Aber die Wunden, die der | |
| Krieg in Libyen geschlagen hat, sitzen tief. Sie zu heilen braucht vor | |
| allem zwei Dinge: Rechtsstaatlichkeit und Zeit. | |
| 17 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Karim Gawhary | |
| Karim El-Gawhary | |
| ## TAGS | |
| Gambia | |
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