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# taz.de -- Debatte Arabellion: Wo ist der arabische Traum?
> Die Arabellion ist in großen Schwierigkeiten. Das liegt nicht zuletzt an
> der Stärke der Islamisten. Und an der Schwäche aller anderen
Bild: Vor einem Jahr in Kairo: Für den Arabischen Frühling auf die Straßen.
Seit Monaten beobachte und analysiere ich täglich die ägyptische Politik.
Und jetzt – bin ich mit den Nerven fertig. Es wird so viel geredet und so
wenig zugehört. So viele Leute haben eine Meinung und keiner kümmert sich
darum, wie wir besser zusammenarbeiten können. Die Arabellion ist wirklich
in großen Schwierigkeiten.
Ägypten und Tunesien drohen abzudriften, sich in unwichtige Themen zu
verheddern und sich auf dem Standstreifen einzurichten. Die Transition in
Libyen ist deprimierend. Bei Syrien können wir uns auf nichts einigen,
dabei wurden schon 30.000 Menschen getötet. Die Extremisten rauben dem
Islam seine Schönheit, sie zertreten alle Blumen und was bleibt, ist der
Geruch der Nostalgie.
Netanjahu zeichnet munter seine Kriegs-Comics und versucht so, die
Amerikaner zu einem Krieg gegen Iran zu überreden; überall schimmert die
Bedrohung durch. Ach ja, und die Allianz zwischen den USA und den Saudis
schließlich beschert uns totgeschossene Demonstranten in Bahrain am
helllichten Tag.
## Land der Einzelkämpfer
In Kairo hat man den argen Verdacht, dass die Islamisten keineswegs ganz
Ägypten regieren, im Gegenteil. Nicht mal das, was man als liberale
Opposition ausmachen könnte, ist zerstrittener und egozentrischer als die
Religiösen. Also frage ich mich: Was ist eigentlich unser
Organisationsprinzip? Was könnte die Ägypter dazu bringen, sich als Teil
eines Kollektivs zu sehen und zu fühlen und nicht nur als Einzelkämpfer,
die nur das eigene Überleben interessiert? Der neue revolutionäre Konsens –
was wie sähe der aus? Würde es helfen, wenn die Liberalen mit den
Islamisten kooperieren? Aber mit welchem Plan, mit welchem höheren Ziel?
Woher sollte die Empathie kommen?
Ich frage zwei Freunde: Was macht eigentlich der „arabische Traum“? Gibt es
ihn überhaupt?“ Mein Freund aus Bahrein findet die Frage offensichtlich
spannend und beginnt laut nachzudenken: „Der arabische Traum? Ist Kinder
aufs Kollege nach Bagdad zu schicken! Große Ferien in Kurdistan!
Autofabriken in Kairo!“ Das tut gut. „Die arabischen Regierungen öffnen
ihre Archive! Die Vergangenheit wird nicht länger hinter Schloss und Riegel
gehalten. Wir nutzen sie, um die Zukunft aufzubauen.“
„Ja!“, antworte ich begeistert, „öffnet die Archive, ganz weit! Damit die
Fledermäuse rauskommen und endlich an der frischen Luft sterben!!“ „Stell
dir vor“, fährt er fort, wir drehen einen Film über die Karbala und ihre
Anfänge in den verschiedenen Städten und die Leute führen sich nicht wie
selbsternannte Polizisten einer Sekte auf, sondern wir diskutieren
ernsthaft miteinander.“
Ich nehme einen Schluck Kaffee und irgendwie kommt mir Damaskus in den
Sinn. Ich sage nichts. Wir wenden uns der Wirtschaft zu. „Wirtschaft ist
immer nur ein Nebengedanke bei uns. Uns fehlte jede programmatische Sprache
für die ökonomische Transformation. Wir haben uns nicht genügend dafür
interessiert, was wir wirklich vom Kapitalismus halten.“
## Ahnungslos im Kapitalismus
„Ich weiß“, sage ich. „Sieht so aus, als halten wir Neoliberalismus als
eine Art unvermeidbare Folge des vagen Übergangs zur Demokratie.“ „Genau.
Korruption zu bekämpfen war ein riesiger Grund für die arabischen
Revolutionen. Warum haben wir also keine Tribunale, die die staatseigenen
Unternehmen unter die Lupe nehmen? Welche Steuerpolitik verfolgt der
Präsident? Wie China, Indien oder Brasilien müssen wir unsere eigenen
internen Märkte aufbauen.“ „Aber werden solche Versuche nicht vom Westen
hintertrieben?“, frage ich. „Doch.“ „Was tun wir also?“ – „Wir
demokratisieren die Golfstaaten.“
Mein Freund aus Tunis regt sich furchtbar über die Entwicklung der
regierenden islamistischen Al-Nahda-Partei auf. Sie sei unqualifiziert. Der
Außenminister wusste nicht, wie die Hauptstadt der Türkei heißt. Die
religiöse Sprache werde missbraucht. Und eine Institution nach der anderen
ginge den Bach runter. Er hat recht. Wie sollte ich das bestreiten?
Ich versuche trotzdem zu versöhnen: Viele der Islamisten saßen über
Jahrzehnte in den Kerkern der vom Westen gesponserten Diktatoren, wegen
ihres „arabischen Traums“. Sie waren nicht die Einzigen, aber ganz sicher
war das Leben für sie ein einziger Alptraum. Nun dürfen sie endlich
aufwachen und haben die Sonne gesehen. Sind sie unsere Brüder oder unsere
Feinde? Sind ihre Frauen unsere Schwestern oder nur die Gesichter ohne
Make-up? Ihr strenger Blick, wenn du sie ansiehst. Die Rohheit ihres
Überlebens. Ist das zu schmerzhaft?
## Uns fehlen die Begriffe
Die Islamisten, die sind leichte Beute für unseren Hass und unsere
Verzweiflung, sie sind die perfekte Projektionsfläche, gegen die wir
ankämpfen, anstatt zu sagen, wofür wir sind.
Wahrscheinlich betrachten wir sie so kritisch, weil sie an unserer
Privatleben ranwollen, sie wollen unser Bewusstsein – sie beanspruchen, es
besser zu wissen und in Besitz eines besseren Gesetzes zu sein. Welche
denkende Person kann das schon leiden?
Und wer könnte leugnen, dass die Ängste unserer christlichen Freunde
berechtigt sind? Das alles aber macht nicht die Jahrzehnte währende
Propaganda gegen die Islamisten ungeschehen. Vielleicht ist es ja mein
Status als Außenseiter und Insider zugleich, eben als ägyptische
Amerikanerin, die es mir erlaubt, mehr Geduld für den Führungsanspruch
derjenigen zu haben, die immer in Ketten gehalten wurden.
Ich kann ganz kommod Metaphern der befreiten Häftlinge benutzen und sie als
Zeichen von Heilung werten – andere sind hier ängstlicher. Was kommt, wenn
die lange verborgenen Islamisten nun so viel Macht haben? Werden sie sich
rächen? Wer sind diese Leute überhaupt, unser Schatten?
Die allerwichtigste Frage für uns bleibt dennoch: Was ist unser Traum?
Gerade weil die Arabellion ins Stocken geraten ist, ist es jetzt an der
Zeit, sich zu fragen, was es bedeutet, Araber in einer Region zu sein, die
die härtesten Kämpfe für eine Vision kämpft. Eine Vision, die wir intuitiv
zu verstehen scheinen, aber noch immer nicht formuliert haben.
26 Oct 2012
## AUTOREN
Sarah Eltantawi
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