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# taz.de -- Debatte Syrien: Eure Angst hilft uns nicht
> Im Ausland wird viel von den angeblich brutalen Rebellen in Syrien
> berichtet. Doch die meisten Syrer demonstrieren weiter friedlich für ihre
> Menschenrechte. Wie am ersten Tag.
Bild: Ein Amateurfoto zeigt eine oppositionelle Demonstration in Syrien.
Bei einer Podiumsdiskussion im Londoner Royal Court Theatre fragte mich im
letzten August ein Mann aus dem Publikum: „Wie können wir das syrische Volk
bei seiner Revolution unterstützen, ohne uns dabei in den Dienst
irgendwelcher politischen Machtinteressen zu stellen?“ Für einen Moment
schwieg ich ratlos. Dann sagte ich etwas lax: „Ich zweifele nicht daran,
dass Sie imstande sind, das zutiefst menschliche Anliegen der sich
Erhebenden zu erkennen, jenseits aller politischen oder medialen
Verwirrung.“
Seitdem eskaliert die Situation in Syrien stetig. Trotzdem habe ich keine
klarere Antwort parat. Nur eben jene etwas laxe von der Podiumsdiskussion
im Royal Court: Ich bin sicher, dass Sie das zutiefst menschliche Anliegen
nach Menschenwürde und Freiheit erkennen können.
Offensichtlich habe ich mich getäuscht. Nach wie vor erhalten die
Protestierenden nicht die Unterstützung für ihre Revolution, die sie so
dringend bräuchten. Die Hauptgründe dafür liegen wohl in den Erfahrungen
mit den anderen Ländern der Arabellion. Der enorme Erfolg der
islamistischen Parteien ist für die meisten Amerikaner und Europäer schwer
verdaulich.
In Syrien möchte man jetzt nicht auch noch Islamisten an der Macht sehen.
Gleichzeitig haben viele Libyen als Negativbeispiel für jede Art von
direktem Eingriff vor Augen. Natürlich dürfen wir auch „die Situation“ im
Irak nicht vergessen, auch dort ist „die Lage“ ja alles andere als
„stabil“.
Ist es überflüssig zu sagen, dass diese Vorbehalte auf falschen
Verallgemeinerungen beruhen? Verallgemeinerungen, welche die politischen,
sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den arabischen Ländern
weitgehend ignorieren. Viel wichtiger und schlimmer aber ist, dass so der
Kern, um derentwillen diese Revolutionen überhaupt angefangen haben,
vergessen wird: Die Sehnsucht der Völker, der Herrschaft korrupter und
totalitärer Regime endlich ein Ende zu setzen.
Das Kernanliegen der Syrer wird übertönt von den Ängsten „der Anderen“. …
Ängste der Europäer sind wichtiger als das Recht eines Volkes auf Würde und
Mitbestimmung. Sei‘s drum. Die Syrer müssen sich mit diesen Ängsten jetzt
arrangieren – auch wenn sie nicht auf ihr Konto gehen.
## Unterschiede sind Unterschiede
Am 26. März veröffentlichte Der Spiegel einen viel beachteten Artikel der
Journalistin Ulrike Putz. Der Text erzählt, wie brutal Mitglieder der
Freien Syrischen Armee im Homser Bezirk Baba Amro gegen alle Seiten
vorgehen. Die Weise, wie Putz ihren Protagonisten „Hussein“ zitierte, ließ
viele an der sorgsamen Recherche der Journalistin zweifeln.
Am Ende des Artikels wird noch einmal erläutert, wie verwickelt die Lage in
Syrien ist, dass die Zukunft des Landes vollkommen im Ungewissen liege, und
dass ein Wandel dort einen enorm hohen Preis kosten würde. Da überlegt man
es sich besser zweimal, bevor man die Revolution unterstützt! Damit wären
wir wieder bei der Frage vom Anfang: Wie sollen wir einen Wandel
unterstützen, der keine Stabilität garantieren scheint?
Viele Antworten darauf sind denkbar, zum Beispiel: Das zögerliche
Unterstützung ist eine Ursache dafür, dass die Lage im Land immer
komplizierter wird, dass die Zukunft Syriens immer ungewisser wird. Syrien,
dessen gesellschaftliches Gewebe aufgrund eines Regimes, das nur an die
Sprache der Gewalt glaubt, so geschwächt ist wie nie zuvor.
Oder: Das Regime selbst hat anstatt den legitimen Forderungen der
Protestbewegungen nachzugeben und so ein Blutbad zu verhindern, mit seiner
erbarmungslosen Gewalt jeden, wirklich jeden Dahergelaufenen eingeladen,
sich in Syriens Angelegenheiten einzumischen.
Dessen ungeachtet kämpft der Großteil der Syrer nach vor wie um ihrer
Grundrechte willen: Freiheit, Menschenwürde, Gleichberechtigung. Und nach
wie vor greift das Regime jene freiheitshungrigen Studierenden mit
derselben Grausamkeit an, indem es konfessionellen Hass säht und sie zur
Gegengewalt drängt. Genauso wie es am allerersten Tag der Revolution der
Fall war.
## Einer gegen Zweihundert
Im vergangenen Juli, während einer unserer Kundgebungen, der
Intellektuellen-Demo im Midan-Viertel in Damaskus, während wir in
Sichtweite der Sicherheitskräfte liefen, die uns etwa drei Minuten lang
scheinbar ignorierten, bevor sie uns dann angriffen, näherte sich uns ein
Regime-Anhänger. Ein junger Typ in der Blüte seiner Zwanziger drängte sich
ganz allein in unsere Reihen, um uns zu beschimpfen und anzuspucken.
Wir waren etwa zweihundert Leute, und er war ganz allein. Er konnte uns
einfach so anspucken und beleidigen, er wußte ja genau, dass die
Geheimdienste und die Schabiha-Milizen nur einige Meter entfernt standen,
bereit auf uns mit Elektroschockern und Schlagstöcken loszugehen, was sie
dann auch taten. Dabei brüllten sie “Freiheit wollt ihr, ihr Hurensöhne?”!
Natürlich sind an jenem Tag viele der bekannten Gesichter der syrischen
Kulturlandschaft festgenommen worden: Schriftsteller, Regisseure,
Journalisten und Fotografen. Ich denke, es ist überflüssig zu sagen, dass
keiner von ihnen bewaffnet war. Zu jenem Zeitpunkt war eine Militarisierung
der Revolution noch gar nicht absehbar.
Auch die Aktivisten, die sich mehr als acht Monate später, am 12. April
2012, vor dem Gebäude des Syrischen Parlaments versammelt hatten, waren
ausschließlich mit Transparenten bewaffnet, auf denen stand: ”Stoppt das
Töten!” Denn an diesem Tag sollte jenes brüchige Versprechen, mit dem sich
das Regime auf eine Waffenruhe verpflichtet hatte, in Kraft treten. Und wie
reagierten die Sicherheitskräfte mitsamt ihrer Schabiha-Milizen auf die
Aktivisten? Mit Schlägen, Beschimpfungen, Festnahmen. Alles wie gehabt.
Seit den ersten Aufständen in Deraa bis zu diesem Moment ist der Kampf
gegen das Regime in erster Linie ein ethischer, ein humanistischer Kampf.
Das ist weder eine naive Darstellung der Lage noch eine utopische
Vorstellung von Revolution. Es ist die Realität, mit der wir nach wie vor
tagtäglich leben. Die ganzen politischen Verwicklungen mitsamt den
besorgniserregenden Zukunftsaussichten sind allein die Folgen der
exzessiven Gewalt des Regimes.
Dass diese Tatsache die Syrer von ihrer Verantwortung losspricht, sich mit
den Herausforderungen der Zukunft zu konfrontieren, ist mir bewusst. Aber
wer wirklich den Wunsch hat, die Menschen zu unterstützen, die für ihre
Grundrechte kämpfen, der sollte sich nicht beirren lassen. Die Revolution
ist inzwischen ein politischer Kampf zwischen einem Regime, oppositionellen
Eliten und regionalen beziehungsweise internationalen rivalisierenden
Gruppen geworden, Ja. Aber vor allem ist sie ein Kampf für Menschenrechte,
Gerechtigkeit und Bürgerrechte.
## Verhaftet: das bunte Syrien
Während ich hier an diesem Artikel schreibe, denke ich an all diejenigen
unter meinen Bekannten, die im Zuge der Proteste verhaftet wurden. Da sehe
ich ein schönes Regenbogenspektrum, prächtig bunt wie Syrien selbst: Männer
und Frauen, Muslime und Christen, Alawiten und Kurden, Musiker, Ärzte,
Journalisten und Arbeitslose. Sie, und all die Märtyrer, machen die Seele
der Revolution aus, einer Revolution, die sich nicht um diejenigen zu
sorgen braucht, die sie zwar gerne unterstützen würden, aber verwirrt
stehenbleiben, angesichts all der politischen Verwicklungen, Konferenzen
und Statements von dieser oder jener Seite.
Die Gründe, warum die Aufstände überhaupt begonnen haben, sie gelten noch
immer, genau wie am Anfang. Und noch immer ist der Sieg der Revolution
gleichzusetzen mit einem Sieg der Freiheit, ihrem wichtigsten Ziel, und
schließlich dem Sieg der Menschenrechte, für ein Volk, das sich gegen eine
tyrannische Macht erhoben hat. Vorbehalte gegenüber den Verstößen und den
Ausschreitungen einiger Rebellen zu haben, ist jedermanns gutes Recht, und
sie zu verurteilen ist eine Pflicht.
Was die Sorge um die Zukunft betrifft, teilen wir sie alle gemeinsam:
Keiner kann irgendwelche Garantien bieten. Alles was wir haben, ist das
Streben nach Freiheit und nach einem Rechtsstaat.
Die rebellierenden Syrer dabei zu unterstützen, die Würde und Freiheit, die
man ihnen genommen hat, zurückzugewinnen, ist in erster Linie eine
menschliche und ethische Verantwortung. Ganz wie bei jedem anderen Volk,
das für Freiheit kämpft. Das ist, was ich damals vor einigen Monaten
gemeint habe. Und das antworte ich auch jetzt. Und auch in Zukunft.
28 Apr 2012
## AUTOREN
Mohammad Al Attar
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