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# taz.de -- Praktiken in der Psychiatrie: Angehörige als Störfaktor
> Früher galten Familienmitglieder von Psychiatriepatienten meist als
> lästig. Erst in den 1970er Jahren setzte ein Umdenken ein – ein sehr
> langsames.
Bild: Die Angehörigen von Patienten müssen miteinbezogen werden in die Therap…
BERLIN taz | „Ich konnte es kaum glauben, als Angehörige mir berichteten,
wie sie in den Kliniken behandelt werden“, bericht Christian Eggers. Der
renommierte Kinder- und Jugendpsychiater rief mit der Eggers-Stiftung in
Essen ein Modellprojekt ins Leben, das erkrankten jungen Menschen den Weg
zurück in die Gesellschaft ebnen soll, das aber auch auf den Trialog von
Ärzten, Patienten und Angehörigen als gleichberechtigte Partner setzt.
Anlässlich des zehnjährigen Bestehens seiner Einrichtung hatte Eggers jetzt
in Essen aufgrund der Nöte, die Eltern ihm immer wieder geschildert hatten,
zu einer Regionalkonferenz geladen. Das Ziel: Ärzte und Eltern
zusammenzubringen, damit sie sich austauschen.
Während die Angehörigen zahlreich erschienen, fehlten die meisten
Behandler, die eingeladen worden waren. Umso deutlicher kamen die Sorgen
der Betroffenen zum Ausdruck: Fehlender Respekt, mangelnde Information,
kaum Unterstützung während und nach der Behandlung waren nur einige Punkte.
„Die Zusammenarbeit mit einem Arzt ist so wichtig, aber einen guten Arzt zu
finden, das ist Glücksache“, fasste es eine Mutter zusammen.
Einer der wenigen Ärzte, die an der Runde teilnahmen, war Klaus Dörner,
auch er ein angesehener Psychiater und Wissenschaftler. Dörner leitete bis
1996 die Westfälische Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie
in Gütersloh. Im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie gilt er als der Erste,
der die Bedeutung der Angehörigen von Patienten erkannt hat.
„Angehörige haben in der Psychiatrie immer eine störende, wenn nicht sogar
schuldverstrickte Rolle gespielt, mit der die Psychiater ihr
Kausalitätsbedürfnis befriedigt haben“, erinnert er sich zurück: „Wir ha…
1973 die erste Angehörigengruppe ins Leben gerufen und waren erstaunt, was
wir dadurch über die Wirklichkeit der psychisch Kranken erfahren haben und
was uns bis bisher entgangen war – das war mein größtes Bildungserlebnis.“
## Zuwendung und Aufmerksamkeit
Abgrundtief geschämt habe er sich, weil der Patient immer nur isoliert
betrachtet worden war: „Es stehen immer mehrere Menschen im Mittelpunkt,
die zwar alle unterschiedlich, aber gleich viel leiden. Sie haben
entsprechend einen Anspruch auf Zuwendung und Aufmerksamkeit der Menschen,
die sich dazu berufen fühlen, zu helfen. Sonst begeht man einen
Kunstfehler.“
Warum heute immer noch nicht oder nur unzureichend Angehörige mit
einbezogen werden, ist für Dörner eine Frage, die ans „Eingemachte“ der
Psychiatrie geht: Die moderne Psychiatrie entsteht parallel zur
Industrialisierung. Menschen werden in großer Anzahl in Institutionen
zusammengefasst, beschreibt der Psychiater die historischen Grundlagen: „Es
hat den Anschein, dass die damalige Psychiatrie ein Interesse daran hatte,
das Störpotenzial der psychisch Kranken lahmzulegen. Man will sie nicht
gerade umbringen, aber man will sie isolieren – in einer Gesellschaft, die
ihre Mitglieder nur nach ihrer Leistungssteigerungsfähigkeit akzeptiert,
sind sie die Leistungsminderwertigen. Das ist immer noch der Kern unserer
Psychiatrie.“
Diese fabrikmäßige Art des Helfens in hermetischen Räumen unter der
Prämisse eines medizinischen Defizitmodells ist in Dörners kritischen
Überlegungen anscheinend per se eine Hürde für diese Art von
Aufmerksamkeit: „Wenn man die Kultur einer gleichgroßen Aufmerksamkeit für
Patienten und Angehörige in einer Institution, also unter falschen
Bedingungen, beibehalten möchte, dann muss man permanent zusätzliche
Energie reinstecken.“
## Kreative Leistung des Patienten
Eggers ergänzt, dass er früher als Außenseiter angefeindet wurde, als er
darauf hinwies, dass die einseitig medikamentöse Behandlung der
Schizophrenie ein Kunstfehler sei: „Psychiatrische Symptome sind auch als
eine kreative Leistung des Patienten anzusehen, die positiv zu bewerten
sind und helfen, den Patienten zu verstehen. Es ist wichtig, dass der
Therapeut die psychotische Symptomatik niemals lediglich als eine ’Störung‘
ansieht oder ausschließlich als psychisches Äquivalent einer
neurobiologischen – molekulargenetischen Fehlentwicklung interpretiert.“
Vielmehr komme es darauf an, sich zum Beispiel den Wahnsymptomen
existenziell auszusetzen und zu versuchen, deren metalogische Bedeutung zu
verstehen.
„Medikamente sind zwar hilfreich und notwendig, aber die Patienten brauchen
jemand, der den Patienten mit größtem Respekt, mit Ehrfurcht und Demut
begegnet. Damit ist gemeint eine tiefe Akzeptanz der besonderen Art, die
den Patienten eigen ist, aber ebenso die Bereitschaft, dem Patienten
einfühlsam zur Verfügung zu stehen, wenn man ihn über weite Strecken nicht
versteht“, betont der Kinder- und Jugendpsychiater.
Das koste Zeit, Kraft und Mühe, der sich nicht jeder Behandler unterziehen
möchte: „Man geht den bequemeren Weg und verabreicht lediglich
Psychopharmaka, vor allem unter der zeitlichen Belastung einer zunehmenden
Bürokratisierung des klinischen Alltags.“
## Psychoedukative Gruppen
In Essen jedenfalls einigten sich die Teilnehmer auf eine Entschließung mit
wichtigen Forderungen: Beispielsweise sollten Ärzte besser erreichbar sein
und Angehörige ausführlicher über die Erkrankung aufklären. Psychoedukative
Gruppen sollten in jeder Klinik angeboten werden, und zwar für Angehörige
und Patienten. Auch Wohnformen wie das Haus Trialog, das im Rahmen der
Eggers-Stiftung entstanden ist, dürfen keine Ausnahme bleiben. Ebenso muss
der Umgang mit Angehörigen respektvoll und wertschätzend sein.
„Natürlich ist es einfach, Angehörigen ein Etikett anzuheften – als
Störenfriede oder Traumatisierte. Sie werden so mit den Kranken direkt
mitstigmatisiert“, beschreibt Eggers die Situation. „Ganz im Gegenteil muss
man sich vergegenwärtigen, was die Angehörigen leisten, um den
Schicksalseinbruch in ihr Leben einzuordnen und für die Familie jeweils
möglichst optimale Problemlösungsstrategien zu entwickeln, dabei brauchen
sie unsere behutsame und wertschätzende Unterstützung. Angehörige dürfen in
ihrem Kummer, ihrer Ratlosigkeit und ihrer Angst vor Stigmatisierung vom
Erstkontakt an nicht alleingelassen werden!“
25 Nov 2012
## AUTOREN
Wilfried Urbe
## TAGS
Psychiatrie
Angehörige
Medikamente
Behandlung
Medizin
Nachruf
Justizskandal
Zwangsbehandlung
Psychiatrie
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