| # taz.de -- Debatte Unterbringung in der Psychiatrie: Die Freiheit zum Darmtumor | |
| > Nach einem Karlsruher Urteil dürfen Ärzte Patienten nicht mehr gegen | |
| > ihren Willen behandeln. Selbst Krebskranke werden jetzt entlassen. | |
| Bild: Ein bißchen nackt auf der Straße tanzen? – Im Betreuungsrecht geht es… | |
| In den Kinos läuft derzeit ein Horrormärchen mit Nina Hagen. In einem | |
| Werbespot des Berliner „Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener“ tanzt ein | |
| nacktes Paar auf der Straße Walzer. Vorbeikommende Spießer rufen die | |
| Polizei, die beide in eine Klinik verbringt, wo sie festgebunden werden und | |
| gegen ihren Willen eine Spritze erhalten. Dann taucht Nina Hagen im Bild | |
| auf und wirbt für Patientenverfügungen: „Geisteskrank? Ihre eigene | |
| Entscheidung!“ | |
| Dabei hat das Märchen mit unserer Rechtslage und -praxis nichts zu tun. | |
| Niemand darf wegen Nackttanzen eingesperrt werden. Alle Ärzte und Richter, | |
| die ich kenne, würden dies ablehnen. Und zwar zu Recht. | |
| Im Juni hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit einem Urteil die Situation | |
| juristisch weiter erschwert. Die Behandlung eines psychisch Kranken kann | |
| seitdem gegen seinen Willen nicht mehr angeordnet werden. Die Bestimmungen | |
| des Betreuungsrechts seien zu vage, um den hohen Anforderungen für einen so | |
| gravierenden Eingriff in die persönliche Freiheit zu genügen, so der BGH. | |
| Eine solche Unterbringung nach dem Betreuungsrecht ist nicht mit einer | |
| forensischen Unterbringung von psychisch kranken Straftätern zu | |
| verwechseln. Die Behandlung erfolgte vielmehr bislang in normalen | |
| psychiatrischen Abteilungen von Allgemein- oder Fachkrankenhäusern, wenn | |
| ein dringender Behandlungsbedarf besteht, der Erkrankte sich selbst oder | |
| andere gefährden könnte und aufgrund der psychischen Erkrankung nicht mehr | |
| in der Lage ist, die Notwendigkeit der Behandlung zu erkennen. Die | |
| Unterbringungsdauer beträgt meistens ein bis vier Wochen. | |
| ## Bedrohliche innere Stimmen | |
| Das BGH-Urteil: ein Sieg für die Freiheit und das Recht, anders oder | |
| verrückt zu sein? Nina Hagen würde dies vermutlich bejahen. In meiner | |
| Arbeit sehe ich dagegen die Schwierigkeiten, die die neue Rechtsprechung | |
| für die Patientengesundheit mit sich bringt. So kenne ich viele Menschen, | |
| die erst zu spät eine psychiatrische Behandlung gesucht haben, etwa einen | |
| Vater mit schwerer Depression, der erst therapiert wurde, nachdem er sich | |
| durch einen Fenstersprung selbst töten wollte. Nun ist er | |
| querschnittsgelähmt. | |
| Eine Besonderheit psychischer Erkrankungen ist, dass der Betroffene sie | |
| mitunter als solche nicht mehr erkennen kann. So wurde ein 52-Jähriger zu | |
| uns gebracht, weil sich die Hausbewohner zunehmend vor ihm ängstigten. Er | |
| hatte sich mit einem Stock bewaffnet und nächtelang extrem laut das Radio | |
| aufgedreht. In einem Verfolgungswahn glaubte er, die Nachbarn wollten ihn | |
| töten. Mit dem Radio kämpfte er gegen innere Stimmen. Der Richter sah wegen | |
| der Bewaffnung eine akute Gefährdung und ordnete den Aufenthalt im | |
| Krankenhaus an. | |
| Unter Bezug auf das BGH-Urteil untersagte er aber zugleich eine Behandlung | |
| ohne Zustimmung des Patienten. Ein Behandlungsversuch mit einem | |
| antipsychotischen Medikament hätte eine Chance geboten, dass unser Patient | |
| sich von seinem Wahn distanziert. Trotz intensiver Gespräche gelang es uns | |
| nicht, ihn für eine freiwillige Medikation zu gewinnen. Ungeachtet des | |
| Unterbringungsbeschlusses haben wir uns entschieden, den Patienten zu | |
| entlassen. Bloßes Einsperren ist inhuman, kommt einer Gefängnisstrafe | |
| gleich und ist mit einer ärztlichen Grundhaltung nicht vereinbar – ein | |
| Rückfall in die Verwahr-Psychiatrie. | |
| ## Hand ab mit der Kreissäge | |
| In einem anderen Fall haben wir einen Patienten mit Demenz trotz | |
| Unterbringungsbeschluss entlassen, da es uns nicht gelang, ihn von der | |
| Notwendigkeit zu überzeugen, einen Darmtumor operieren zu lassen. Auch hier | |
| hatte das Gericht mit Verweis auf den BGH eine Behandlung untersagt. Ein | |
| letztes Beispiel: Eine Studentin Mitte zwanzig hatte erstmals eine Psychose | |
| entwickelt und sich mit einer Kreissäge selbst die Hand abgesägt. | |
| Geisteskrank – Ihre eigene Entscheidung? | |
| Welche Freiheit verteidigt Nina Hagen? Es liegt im neoliberalen Trend der | |
| Zeit, der individuellen Freiheit zulasten übergeordneter Interessen ein | |
| immer größeres Gewicht beizumessen. Freiheit und Selbstbestimmung haben | |
| aber innere Voraussetzungen. Philosophie und Rechtswissenschaft | |
| unterscheiden den „freien Willen“ vom „natürlichen Willen“. Der unmitt… | |
| geäußerte „natürliche Wille“ ist nicht immer kongruent mit dem freien | |
| Willen, der den eigentlichen und konstanten Zielen des Menschen folgt. Bei | |
| den meisten zielt er unter anderem auf Wohlbefinden und ein Leben in | |
| Sicherheit. Freie Willensbildung erfordert ein hohes Maß an | |
| Intelligibilität (Rationalität), Authentizität und der Fähigkeit, zwischen | |
| verschiedenen Alternativen auswählen zu können. | |
| Psychische Krankheiten wie Verfolgungswahn können dies beeinträchtigen. Es | |
| ist häufig primär die Krankheit, die unfrei macht, nicht die Behandlung. | |
| Bei einem fiebernden Kind, das nicht in die Klinik will, entscheiden wir | |
| mit geringerem Zweifel gemäß dem freien und nicht dem natürlichen Willen | |
| des Kindes. | |
| ## Bundestag ist gefordert | |
| Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Psychisch Kranke sich selbst | |
| zu überlassen kann auch Ausdruck gesellschaftlicher Ignoranz sein. Wir | |
| überfordern Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, wenn wir ihnen | |
| allein die Verantwortung für sich selbst zuschreiben. Die Kliniken laufen | |
| Gefahr, einen kranken, aber ablehnenden Patienten zu leichtfertig | |
| wegzuschicken. Die Mitarbeiter ersparen sich undankbare | |
| Auseinandersetzungen, juristischen und bürokratischen Aufwand und ein | |
| ungutes Gefühl. | |
| Ein Zwang zur Normalität ist abzulehnen. Der „glückliche Verrückte“ muss | |
| sein unkonventionelles Leben führen dürfen. Leider ist dies jedoch mehr | |
| Romantik als Realität. Psychische Erkrankung geht meist mit innerer Qual | |
| und manchmal auch Gefährdung Dritter einher. | |
| Der Bundestag muss die entstandene Regelungslücke schließen. Eine | |
| undankbare Aufgabe für Politiker, die mit dem Thema Zwangsbehandlung | |
| riskieren, entweder der Fraktion „Repressive Psychiatrie alten Stils“ oder | |
| der Fraktion „Unbehandelte psychisch Kranke werden auf unsere Kinder | |
| losgelassen“ zugeordnet zu werden. Solange Unterbringung rechtlich möglich | |
| sein soll, muss auch Behandlung ermöglicht werden. | |
| 12 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Bschor | |
| ## TAGS | |
| Psychiatrie | |
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